Zwischenräume erobern

Seit über einer Woche laufen die Proben für "Ulisse" nun bereits. Eine Besonderheit: Die Hinterbühne des Prinzregententheaters wird bei diesem Projekt zum Ort des künstlerischen Geschehens. Und zum südlichsten Meereshafen Deutschlands.

Es ist wohl die größte Tür, die ich jemals gesehen habe. Sagenhafte 19 Meter hoch und aus schwerem Metall gefertigt. Entsprechend gewaltig muss der Eindruck sein, wenn sie sich öffnet und dem Betrachter ein Blick darauf gewährt wird, was sich dahinter verbirgt. Als ich das erste Mal vor dieser Tür stehe und versuche, mir den Ort auszumalen, der zum Bühnenraum von Ulisse werden wird, wird meine Phantasie leicht von der Aufschrift auf dem gelben Sechseck gedämpft, das den hinter der mächtigen Pforte liegenden Raum als „Lager West“ ausweist. Ein Lager also. Ein Ort, der normalerweise per se dem Blick des Außenstehenden verborgen ist, der Dinge birgt, die darauf warten, in einem anderen Kontext Verwendung zu finden. 

Ich frage mich, wie man bloß darauf kommt, einen Ort, der kaum weniger als Bühne gedacht sein könnte, derartig zweckzuentfremden. Die Antwort ist, wie sich herausstellt, denkbar einfach: Es stand kein anderer Raum zur Verfügung. Da kam nach einigem Überlegen der Vorschlag auf, das Lager temporär zu räumen und zu bespielen. Auf diese Weise ließe sich nicht nur ein Blick „hinter die Kulissen“ gewähren; der Raum, der im Zuge von Umbauarbeiten einer umfassenden Veränderung unterzogen werden wird, könnte auch ein letztes Mal in seiner jetzigen Beschaffenheit genutzt werden. Einige der besten Ideen sind bekanntlich aus der Not geboren und diese Idee, davon ist man spätestens überzeugt, wenn man das Lager betritt, ist gut. 

Tatsächlich überwältigt der Raum mit seinen ungewöhnlichen Dimensionen –19 Meter Länge, 7 Meter Breite und 19 Meter Höhe –, die ihm Durchgangscharakter verleihen: Es ist ein Ort des Transits, ein Zwischenraum. "Ich musste sofort an einen Hafen denken", erzählt Martina Veh von ihrer ersten Assoziation. Das liegt nahe, schließlich besticht das Lager mit Industriecharme. Die Zeit hat hier ihre Spuren hinterlassen, an den rohen Wänden blättert hier und da die Farbe ab, der Betonboden ist mit Farbspritzern übersät, rostige Metallelemente und allerlei Rohre und Kabel runden das Bild ab. Veh, die nicht nur für die Inszenierung verantwortlich zeichnet, sondern auch die Bühne für Ulisse gestaltet, setzt ganz auf die Energie des Raumes, dessen einzigartige Atmosphäre zahlreiche Bezugspunkte zum Ulisse-Stoff bietet. 

Da ist einerseits das Hafen-Bild, das ganz offensichtlich Hand in Hand mit der Erzählung von Odysseus’ Irrfahrten auf dem Meer geht. Die Bezüge reichen aber tiefer: Der Hafen ist ein Ort der Abreise und der Rückkehr, ein Umschlagplatz für Waren und Güter aller Art, aber auch der erste Ort, den Flüchtlinge erreichen, um ein neues Leben zu beginnen. Der Grenzcharakter ist prägend für den Hafen; er ist ein Ort des Übergangs, des Dazwischen. 

Hier lassen sich Parallelen zum Inhalt des Ulisse-Stoffes ziehen: Zwanzig Jahre ist Ulisse unterwegs, irrt zehn Jahre herum, sich danach sehnend, endlich zu Frau und Kind und in sein altes Leben zurückzukehren. Zwanzig Jahre wartet Penelope auf die Rückkehr ihres Mannes, zwanzig Jahre, in denen sie weder Witwe ist, noch Ehefrau. Auch ihr Sohn, Telemaco, leidet unter der Ungewissheit über den Verbleib seines Vaters, während sich die Freier, allen voran Eurimaco mit Hilfe seiner Geliebten Melanto, nach Veränderung sehnen und danach trachten, Ulisses Posten einzunehmen. Die Protagonisten von Ulisse führen ein Leben im Zwischenstadium. 

Bis zu dem Tag, an dem Ulisse zurückkehrt. 

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