Brzezinka ist ein weltfremder Ort, mitten im Wald, mit einer heiligen Atmosphäre, wie man sie heute nicht mehr kennt. Isoliert von der Außenwelt arbeitete Jerzy Grotowski hier von 1971-1982 am sogenannten Paratheater. Zusammen mit jeweils zwei Studierenden der acht PLETA Schulen (Warschau/Bialystock, Helsinki, Riga, Brüssel, Salzburg, Maastricht, Oslo und München), und vier polnischen Dozenten lebten wir eine Woche in einem alten Bauernhaus mit fragilem Stromnetz und spärlichem Warmwasservorrat. Schon früh morgens kümmerten wir uns jeden Tag um alles selbst: Putzen, Kontrollieren der Schlafplätze auf Essensreste wegen der Mäuse, Kochen, Spülen, Holz Hacken und Heizen der Kamine, sodass wir um Punkt 10:00 Uhr mit dem Training beginnen konnten. Wenn man sich den Wecker 10 Minuten früher zu stellen wagte, dann blieb Zeit für etwas Besonderes: Mit vorzugsweise dickem Wollpullover und einem Handtuch lief man barfuß an der Mühle vorbei, durch den Wald, zu einem Wasserfall, der unterhalb eines romantisch anmutenden Fischersees lag. Muskeln wach machen für den anstrengenden Tag, wie einst der Meister selbst.
Das morgendliche Training, initiiert von Tomasz Rodowicz und Elina Tonewa, gestaltete sich anstrengend. Eine Mischung aus Akrobatik, Partnerkontakt, Rhythmus, Gleichgewichts- und Kraftübungen. Am ersten Tag hatte ich noch Probleme. Immer wieder hieß es: „Bleibt im Fluss, seid eine Welle“ – sehr neu für jemanden, der die weichen Aikido-Matten der Theaterakademie gewohnt ist und nun mit dem nackten Boden konfrontiert wird. Das war der einzige Moment in dieser Woche, an dem ich gezweifelt habe, ob der Workshop wirklich das Richtige für mich ist. Aber ich habe den harten Boden lieben gelernt und auch die blauen Flecken auf meinen Schulterknochen, dem Rücken und den Knien. Das gehört alles dazu und das ist gut so! Unsere beiden Trainer leiteten auch die Rhythmus- und Gesangssequenz. Elina sang bulgarische Volkschöre und Tomasz leitete komplizierte Taktwechsel ein. Dazu gehörte auch Pani Dorota, die uns einen altgriechischen Antigone-Chor zeigte, der verbunden war mit einer Stock-Choreografie. Wir haben sie alle als eine Art Schamanin gesehen, die nicht viel redete und lauter konspirative Dinge machte. Sie zeigte uns ein Labyrinth, mit dem wir im Laufe des Programms so vertraut wurden, dass wir es zu jeder Tages- und Nachtzeit, an jedem beliebigen Ort hätten nachgehen können.
Jeden Abend vor dem Essen gegen 9:00 Uhr machten wir uns mit ihr bereit für den Night Run. Doch anders als erwartet, gingen wir nicht im Wald joggen. Nein, hier ging der rituelle Wahnsinn los, für den Grotowski bekannt ist. Sobald wir nach draußen kamen, waren alle still und wir übernahmen Pani Dorotas Atemrhythmus – zweimal kurz einatmen, zweimal kurz ausatmen – und joggten erstmal im Schritttempo in den stockfinsteren Wald. Dann nahmen wir uns an den Händen und liefen in einer Kette weiter. Meist war es so dunkel, dass man weder die Hand des Vordermannes noch seine eigene sehen konnte. Es ging über Wurzeln, durch Schlamm und vorbei an tiefen Pfützen, die nur ein schmaler Grat vom nächsten Wasserloch trennte. Es ging darum, die Wahrnehmung zu trainieren: Wir kamen einmal zu einem großen Feld und rannten los. Dann drehten wir uns eine halbe Stunde um die eigene Achse, wobei einige nur beobachteten und andere so schnell rotierten, dass sie in die nasse Wiese fielen. Auf unseren nächtlichen Pfaden machten wir immer wieder Stops, in denen wir uns alle ganz dicht zusammen stellten und den Rhythmus sich weiter entwickeln ließen. Eigentlich immer wurde dieser Gruppensound zu undefinierbaren Tiergeräuschen. Wichtig ist, dass man sich voll und ganz darauf einlässt, denn wenn man einmal hinterfragt was zur Hölle man hier eigentlich macht, zerstört man den Moment und die Übung hat keinen Sinn mehr. Das macht man einmal und nie wieder. Eine weitere Übung, die eines Nachts ohne Erklärung einfach unternommen wurde: Drei Personen laufen auf einen Baum zu, der Mittlere wird von den Äußeren gestützt, läuft drei Schritte am Baum hoch, macht einen Salto und landet wieder. Einmal haben wir unsere Stiefel ausgezogen und sind durch die kleinen Bäche gelaufen, denen wir sonst immer ausgewichen sind. Danach gings barfuß zurück zum Haus durch das Gestrüpp und die Brennnesseln. Sowas verbindet. Wenn wir dann gegen 11 aus dem Wald zurück marschierten und in die Küche kamen, war dort das Abendessen schon bereit. Der lange Holztisch war mit buntem Geschirr gedeckt und voller Teelichter, dazwischen standen Schüsseln mit Salaten, Aufstrichen und sonstigen Köstlichkeiten. Das war also das arme Theater! Als wir alle mit beseeltem Lächeln am Tisch Platz nahmen, war das einer der besten Momente unseres Lebens.
Eine sehr eindrucksvolle Person war für mich Pan Piotr Burowski. Er hat sechs Jahre in Italien mit Grotowski zusammengearbeitet und erzählte viele Anekdoten. Er, ein kleiner, älterer Mann mit Brille und einem lustigen polnischen Akzent wenn er Englisch sprach, sagte uns Dinge wie: „Guys this place is like church“, und schaffte so eine besondere Atmosphäre. Mit Piotr machten wir jeden Morgen ,Motions’ – ein Bewegungszirkel, bei dem der langsame, synchrone Rhythmus der Gruppe entscheidend ist. Dieser Zirkel funktioniert so präzise, dass Piotr sehr oft unterbrach, verschiedene Personen berichtigte, dann nochmal auf die innere Einstellung dieser Übung zu sprechen kam, um dann von vorne zu beginnen. Diese ,Motions’ machten wir einmal am Tag für 40 Minuten ohne die Unterbrechungen. Der andere Teil seiner Arbeit nannte sich ,Actions’. Piotr beschrieb dies als psychologisches Foto in einer bestimmten Situation. Wir suchten nach 3 Bildern, die wir uns gegenseitig zeigten und benannten sie. In einer einzelnen Sequenz t Piotr wurde ein kleiner Monolog erfunden, um diese Bilder zu untermalen. Der Monolog hatte sehr viel mit einem selbst zu tun und basierte auf der Frage: Warum bin ich hier? Diese Arbeit wurde sehr persönlich und intim und es war für alle ein großer Schritt, ihn am Ende des Workshops vor dem Publikum, den PLETA-Organisatoren zu zeigen.
"Die Präsentation" war irgendwann allgegenwärtig in unseren Köpfen und die Dozenten wirkten zunehmend gestresst. Pausen gab es nicht mehr und alle rannten nur noch von einem Ort zum anderen, um Zeit zu sparen. Wir Studenten waren uns aber alle einig, dass ein Arbeitsstand gezeigt werden sollte. In den ungefähr vier Stunden, die unsere Präsentation dann dauerte, zeigten wir alles, woran wir gerade gearbeitet hatten. Vor uns saßen sieben wohlwollende und interessierte Gesichter der PLETA-Schulleiter, die den langen Weg nach Polen für uns auf sich genommen hatten. Zwischen jeder Sequenz gab es einen Raumwechsel - einmal wurde sogar in der Küche, auf Bänken, zwischen den Zuschauern performt. Bizarr für uns war, dass sie uns auch zum Night Run folgten, der bisher immer in intimer Atmosphäre stattgefunden hatte. Sie versuchten, uns unauffällig zu folgen, was natürlich umso seltsamer wirkte. Man hat sich gefühlt, wie ein Tier vor Naturforschern was jedoch auch mal ganz interessant war. Danach gab es Lagerfeuer und gute polnische Wurst - die Stimmung durfte endlich locker sein. Am nächsten Tag am Flughafen kam mir alles surreal vor. Die Werbeanzeigen, wohin das Auge reicht, waren das Schlimmste. Davon waren wir eine ganze Woche verschont geblieben. An dieser Stelle möchte ich erzählen, dass sich einige der Grotowski-Schauspieler nach Jahren an diesem Ort umgebracht haben, als sie zurück in die Zivilsation kehren mussten. Ein interessantes Beispiel dafür, was Isolation, die Reizüberflutung danach und vor allem Jerzy Grotowski in einem auslösen können.
Wir möchten uns ganz herzlich bei der Theaterakademie und bei PLETA bedanken, dass wir diese einzigartige Chance bekommen haben und gehen mit vielen Anregungen und Ideen ins neue Semester!