02 - 05 May 2022, Queen Elisabeth Music Chapel: Vier Tage verbrachte die Absolventin des Studiengangs Musiktheater/Operngesang, Franziska Weber, in Waterloo (Belgien) und lernte im Rahmen eines praktischen enoa-Workshops für Sänger:innen, wie sich Zielgruppen jenseits des klassischen Opernpublikums durch Partizipation für Musiktheater begeistern lassen. Lesen Sie hier über Eisbrecher-Momente, die befreiende Kraft des Lachens und die unendlichen Möglichkeiten der Oper, zum Ort für lebendige Begegnung zu werden.
Beim ersten Aufeinandertreffen mit den anderen Kursteilnehmer:innen hatten wir alle eine Gemeinsamkeit: niemand wusste, was wir, ausgehend vom Titel dieses Workshops, von den kommenden vier Tagen zu erwarten hatten.
Outreach skills beschreibt Fähigkeiten im Bereich Öffentlichkeitsarbeit und Reichweite, am schönsten ist wohl die Übersetzung Engagement. Auf Französisch würde es sensibilisation – Aufklärung, Sensibilisierung – heißen. To outreach meint, etwas oder jemanden zu erreichen, zu übertreffen, über etwas hinausreichen; und to reach out heißt hinausstrecken, hinausreichen, jemanden zu erreichen versuchen, jemandem eine helfende Hand reichen.
Derjenige, der uns durch diese Woche führte, war Mark Withers. Mark ist Klarinettist, studierte aber auch Sozialpsychologie, und arbeitet jetzt in unterschiedlichen Settings. Er leitet ein großes Projekt gemeinsam mit dem London Symphony Orchestra, genannt Create, bei dem Musiker:innen des LSO mit Menschen, die normalerweise keinen Zugang zu klassischer Musik und klassischen Konzertformaten haben, gemeinsam Musik machen. Dafür gehen die LSO-Mitglieder und Mark in Spitäler, in Gefängnisse, in Schulen, zu behinderten Menschen etc. Eine seiner liebsten Arbeitsweisen, sagte Mark, führe ihn außerdem zu Menschen wie uns: kurz nach der Ausbildung, auf der Schwelle zum Berufsleben – um Perspektiven aufzuzeigen, was man mit Musik sonst noch so alles bewegen kann.
Der Workshop fand in der Queen Elisabeth Music Chapel in Waterloo, Belgien statt – dem berühmten Schauplatz von Napoleons letzter Schlacht 1815, einem beschaulichen Örtchen etwas südlich von Brüssel. Ich kam am Abend vor Kursbeginn an – ich möchte fast sagen, im Paradies. Eine Auffahrt über knirschenden Kies, hindurch zwischen alten, hohen Bäumen im sattesten Grün, führt zu einer Art-Deco-Villa aus den 40ern, angeschlossen an einen modernen Gebäudeteil, der 2015 angebaut wurde. Die Queen Elisabeth Music Chapel ist eine Institution zur Exzellenzförderung in postgradualer Form und bietet jungen Musiker:innen einen geschützten Rahmen zur Weiterbildung. Mehrere Konzertsäle und Aufnahmestudios und ein Restaurant im Souterrain machen La Chapelle außerdem zu einem belebten Veranstaltungsort. Mitten im Grünen gelegen (man hört zwar den Verkehr der nahen Schnellstraße vorbeirauschen, aber ansonsten ist es so still, dass man morgens den Hirschen vorm Zaun beim Kauen zuhören kann), ist es außerdem der ideale Rückzugsort, wenn man mehrere Tage oder Wochen am Stück konzentriert üben und sich in die Musik versenken möchte. Der neue Gebäudeflügel beherbergt 20 „Studios“, kleine Apartments mit eigenem Bad und eigenem Klavier. Das war schon in der Begrüßungsemail angekündigt – ich hatte ein E-Piano erwartet. Aber als ich mein Zimmer betrat, stand da ein Flügel. Größer als das Bett. Ein fast neuer Yamaha, perfekt gestimmt. Jedes einzelne Zimmer ist außerdem akustisch abgeriegelt – ich konnte mein Glück kaum fassen! Üben zu jeder Tages- und Nachtzeit, ohne die Nachbarn zu stören! Zum Glück hatte ich Noten eingepackt…
Zum Kursbeginn am Montagmorgen gab es ein Begrüßungscafé mit Frühstückscroissants und einer Packung belgischer Waffeln. Einige kannten sich bereits; ich kannte niemandem und wartete den richtigen Start ab. Marks erklärtes Ziel für den ersten Vormittag war es, eine Gruppe zu bilden. Wir spielten erstmal: Klatsch- und Rhythmusspiele, Spiele mit den Namen, Spiele, bei denen wir uns durch den Raum bewegten, Spiele mit ersten kleinen kreativ-szenischen Aufgaben. Nach jeder Übung reflektierten wir, was wir eigentlich gemacht hatten, wie Mark sie angeleitet hatte, was psychologisch passiert war. Die Aufgaben sind bekannt, sie ähneln klassischen Schauspiel-Warm-Ups, aber die Intention dahinter ist eine andere, nämlich: Was ist der musikalische Anteil daran? Wie leitet man das an, damit jeder Mensch mitmachen kann, egal welchen Levels, und in eine Art Musizieren / Performen kommt? Am Ende des Vormittags ist die erste Scheu überwunden, man kennt einander schon ein wenig, die Namen sitzen bombenfest. Und langsam kristallisiert sich heraus, in welche Richtung sich dieser Workshop entwickelt.
Am Nachmittag des ersten Tages wurde es intimer. Wir hatten am Vormittag keine klassische Vorstellungsrunde gemacht, jetzt holten wir das nach. Was normalerweise in solchen Momenten passiert, nämlich dass man ängstlich und immer ängstlicher wird, je näher es im Kreis zu einem selbst kommt, man völlig damit beschäftigt ist, sich ein paar kluge Sätze zurechtzulegen und die in dem Moment, wenn es darauf ankommt, das nur halb stotternd und völlig wirr rausbringt, passierte hier nicht. Alle waren bereits entspannt, die Gruppe schon seit einem halben Tag bekannt, und man traute sich, ehrlich auf die eigenen Ziele, Erwartungen und Ausgangspositionen einzugehen. Manche hatten den Workshop bewusst gewählt, viele wurden von ihren Institutionen entsendet, nach dem Motto, „einfach mal schauen, vielleicht bringt es was“. Aber spätestens jetzt waren alle gut drauf und motiviert.
Danach bildeten wir für musikalische Improvisations-Übungen Zweierteams. Ohne Scheu probierten wir mit einfachen Mitteln aus, wie wir gemeinsam am Klavier improvisieren können (unter uns ist nur ein einziger Pianist) und erforschten die Improvisationsmöglichkeiten der Stimme. Dabei hatten wir immer im Hinterkopf: Was davon kann man auf das eigene musikalische Schaffen übertragen? Was ist theatralisch, was opernhaft? Wie kann man das in eine Performance einbauen? Wie kann man bei einer Performance ein Publikum, das keine Vorerfahrung mit klassischer Musik hat, in die Performance einbinden? Wie kann man das Publikum dazu bewegen, selbst Musik zu machen, Teil der Musik zu werden, Musik selbst zu gestalten und dadurch mehr Zugang zur Musik zu finden?
Am zweiten Tag des Workshops lag der Fokus mehr auf Gesang und den Einsatzmöglichkeiten der Stimme. Als Gast war Sarah Thery da, eine Mezzosopranistin, die als Teilnehmende eines enoa-Workshops auch schon München besucht hatte. Jede:r Teilnehmende leitete eine kleine Übung an, die erklärtermaßen auch mit völligen Laien möglich sein soll – ein kleiner Ausflug also in die Gruppen-Gesangspädagogik, aber aufgrund der unterschiedlichen Hintergründe war für jede:n etwas Neues dabei.
Am Nachmittag komponierten wir eine Oper. Aus dem Nichts. In 3 Stunden. Was absurd klingt, funktioniert tatsächlich, wenn man sich einfach in den Arbeitsprogress fallen lässt. Aufbauend auf den Spielen, Übungen und Elementen, die wir in den bisherigen eineinhalb Tagen schon verwendet hatten, und orientiert an der Überschrift „I want to go to the moon to escape my dark places“, improvisierten wir drauf los, und kreierten so in kürzester Zeit eine 15-minütige Mini-Oper mit 3 Szenen, theatralischem Aufbau, Szene und Musik. Nicht alles war immer perfekt, aber das Ziel war auch erst einmal, Dinge auszuprobieren, immer mit dem Gedanken: „Was funktioniert schon gut? Und wenn mehr Zeit wäre, was würde man verbessern?“
Den Höhepunkt des Workshops bildete der Nachmittag des dritten Tages, an dem uns eine etwa 25-köpfige Gruppe des nahegelegenen Nativitas-Zentrums besuchte. Nativitas ist eine gemeinnützige Organisation in Brüssel, die Menschen unterstützt, die sich in prekären Situationen befinden. Sie bietet diesen Menschen einen sicheren Ort, eine warme Mahlzeit und gelegentliche Aktivitäten wie den Ausflug zu La Chapelle. Nach den zweieinhalb Tagen Arbeit sollten wir Stipendiat:innen von enoa selbst mit dieser Gruppe in einem musikalischen, 3-stündigen Workshop arbeiten. Der Vormittag diente daher der Vorbereitung und Planung, welche Aktivitäten und Übungen wir vorhatten und wie wir den Nachmittag gestalten wollten. Dann würden unsere Gäste eintreffen, wir würden mit ihnen zu Mittag essen und anschließend musikalisch arbeiten.
Die Anspannung und Nervosität unter uns war spürbar, wir alle fühlten uns sehr verantwortlich für das Gelingen des Nachmittags und hofften auf gute Laune und Bereitschaft zum Mitmachen. Aber wir wurden völlig überrascht.
Es ist schwer zu beschreiben, was an diesem Nachmittag passiert ist. Angefangen vom gemeinsamen Essen, das erste kleine persönliche Verbindungen schaffte – wer spricht welche Sprachen, spielt jemand ein Instrument, welche Orte hat man schon besucht – über Eisbrecher-Momente, in denen jemand etwas völlig Unerwartetes tat und alle gemeinsam Lachen mussten, bis hin zu berührenden Augenblicken, wenn Menschen über sich hinauswachsen und Freude im Selbst-Musik-Machen finden. Den Abschluss des Nachmittags bildete eine gemeinsame Performance, die fast 20 Minuten dauerte, und an der sich alle mit Begeisterung beteiligten. Einige Momente waren magisch. Gaël und Jacqui, die am Klavier völlig aufblühten, nachdem sie ihren Respekt, dieses riesige Instrument auch nur anzufassen, überwunden hatten. Gigi, die in einer Kleingruppen-Improvisation absolut wundervoll sopranige Katzenklänge in Pentatonik sang. Gerard, der so viel Freude an seiner tiefen Brummel-Stimme fand, dass er beschloss, einem Chor beizutreten, Yvette und Natasha, die mit ihrer Energie die ganze Gruppe befeuerten, Isabell, die in einem Moment voll impressionistischer Klangfülle fast zu weinen anfing, Patrick, der mit seinem tänzelnden Gang durch den Raum alle für sich einnahm…
Am Schluss – der Workshop musste pünktlich enden, weil ein Shuttle für die Teilnehmenden zurück nach Brüssel organisiert war und der Raum für ein Konzert am Abend vorbereitet werden musste – verließen alle nur zögerlich den Raum, die Besucher:innen wie wir Workshop-Leitende. Alle wollten sich noch über das Geschehene austauschen, das Ende hinauszögern, die Freude über die Performance teilen.
Wir Kursteilnehmenden hatten uns sehr viel zu sagen an diesem Abend. Die eigentliche Reflektion stand am nächsten, letzten Vormittag an, aber am Abend waren wir noch so emotional involviert, dass wir nicht aufhören konnten, das Best-of an kleinen Momenten, die jede:r von uns bemerkt hatte, zu erzählen. Wir waren außerdem völlig ausgelaugt. So eine Gruppe zu leiten, obwohl wir zu acht waren, kostete richtig viel Energie – aber es gab auch sehr viel Erfüllung zurück. Am beeindruckendsten war wohl zu bemerken, wie viel Ressentiments und Sorgen jede:r von uns zuvor gehabt hatte – und wie sehr uns die Nativitas-Gruppe eigentlich vom buchstäblichen Hocker gehauen hatte, mit ihrer Energie und Offenheit für all die kleinen musikalischen Spiele, die wir vorbereitet hatten. Es war unglaublich herzerwärmend und bestärkend; die Kraft der Musik war für uns alle an diesem Abend spürbar.