Ein Jahr Abstinenz: Was mir fehlt... / Teil 1

Der morgendliche Blick auf die neuen Inzidenzwerte? Ist mittlerweile zur Routine geworden. Das pflichtbewusste, mittlerweile sehr gekonnte Aufsetzen der Maske vor dem Betreten der U-Bahn? Ebenfalls Routine. Das kollektive Entsetzen, sobald im Bus auch nur der Hauch eines Hustens zu vernehmen ist? Routine. Bitte Abstand halten.

Ohne Frage: Es ist wichtig, in Zeiten wie diesen solche Verhaltensweisen anzunehmen.

Trotzdem ist es traurig, wie Bestandteile unseres „alten" Lebens - so rührselig und furchtbar pathetisch sich das anhört - aus unserer neuen Realität verschwinden. Man gewöhnt sich daran.

Ich vermisse das Theater.

Diese Aussage kommt vermutlich nicht ganz überraschend, wenn man hinzufügt, dass ich Dramaturgie an der Theaterakademie August Everding studiere. Eine gewisse Affinität zum Bühnengeschehen gehört da eben dazu.

Aber ich vermisse das Theater wirklich.

Ich bin im Oktober des vergangenen Jahres nach München gezogen. Seitdem habe ich hier ein einziges Mal eine Vorstellung besucht.

Man trifft sich nun als Kurs täglich auf Zoom, um stundenlang über Stücke, über Darsteller*innen und über Bühnenräume zu fachsimpeln, und sitzt am Abend doch wieder nur zu Hause vor dem Laptop.

Es gibt bestimmte Orte, die mir dabei helfen, eine Stadt kennenzulernen und mich einzuleben. Theater gehören dazu. Egal, wie fremd und verloren ich bin, im Theater kenne ich mich aus und weiß, wie es läuft. Dieses Gefühl von Nach-Hause-Kommen durfte ich hier bisher kaum erleben. Und so habe ich manchmal noch immer das Gefühl, nur Gast in München zu sein.

Umso wichtiger war das erste Projekt an der Theaterakademie für mich. Mein erstes eigenes Projekt. Meine Unsicherheit war groß. Corona verunsichert. Jungen Künstler*innen fällt mit dem Vorstellungsverbot der Zugang zum Theateralltag und zum Leben auf der Bühne weg und damit der Blick auf das, wofür man arbeitet. Da kommen leicht Selbstzweifel auf und die Frage: Wozu das alles?

Ein Projekt mit dem Münchner Rundfunkorchester also. Zwei Einakter, deren Lebenswelt so weit weg von dem erscheint, was wir gerade durchmachen. Wie gerne wäre man jetzt in Italien und würde Silvio bei seiner Maskerade zusehen. Die Handlungen von Rita und Doktor Mirakel sind zugegebenermaßen recht simpel. Eine Oper über die Liebe? Wie einfallsreich.

Die ersten Tage verliefen eher unspektakulär, die Bühne und eine Aufführung schienen weit entfernt. Stattdessen wühlte ich mich durch potenzielle Bildmotive, sammelte en masse Biographien der Beteiligten zusammen und kämpfte mich durch die gesammelte Donizetti-Literatur.

Was mich noch stärker beanspruchen sollte, war die Arbeit an den Textfassungen. Die Aufgabe: Für beide Stücke eine Figur zu entwerfen, die die Geschichte erzählt. Ich gebe zu, es war eine Herausforderung. Das Thema häusliche Gewalt in Rita musste behutsam aufgegriffen und eine Positionierung dazu gefunden werden, die die eigene kritische Einstellung klarmacht, und dem Stück dennoch nicht die Leichtigkeit nimmt. Corona hat das Thema noch drängender gemacht. Dass man sich dazu positionieren muss, ist klar. Aber wie begegnet man dem Frauenbild einer Opéra-comique aus dem 19. Jahrhundert mit unserer heutigen Perspektive? Eben das bedeutet Dramaturgie nämlich auch: Kontextualisierung und ein Blick auf aktuelle politisch-gesellschaftliche Debatten.
Es war ein Ringen um jeden Satz.

Und dann fiel das Wort „Probe". Man kann sich meine Euphorie nicht vorstellen, als die Studienleiterin von Rita, Maria Fitzgerald, mich auf eine Ensembleprobe einlud. Vor einem Jahr endete meine letzte Probe mit dem wunderschönen Tenor-Bariton-Duett aus Les pêcheurs de perles. Mit Bizet begann also die Proben-Abstinenz, und mit Bizet und Donizetti sollte sie nun wieder enden.

Normalerweise ist es das Konzeptionsgespräch, mit dem die Probenzeit und der Countdown bis zur Premiere starten. Aber was ist derzeit schon normal?

Normalerweise ist dieses Gespräch eine der ersten Gelegenheiten, um das gesamte Team kennenzulernen, zu plaudern und in das Stück einzuführen.

Die Konzeption fand über ein Zoom-Meeting statt. Meeting - das klingt nach Business, Finanzen und Büro-Tristesse. So gar nicht nach Kunst, Leidenschaft und großem Drama. War ich es gewohnt, dass früher beim Vorstellen der Beteiligten großer Jubel, Klatschen und ein gegenseitiges Sich-Anfeuern einsetzten, mussten in diesem Format ein kurzes Lächeln, bei großer Motivation noch ein Winken in die Kamera genügen. Meine Einführung schien im virtuellen Raum zu verhallen, und nach 90 Minuten „Meeting" verabschiedete sich jeder per Mausklick aus der Sitzung. Danach war man wieder allein.

Und dann kam die erste Probe...

>>> Fortsetzung folgt <<<

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