Georges Bizets Carmen zählt zu den beliebtesten und meistgespielten Werken der abendländischen Opernliteratur. Nicht ohne Grund: Die musikalischen Nummern sind durch ihre tanzbasierten Rhythmen und die exotisch anmutende Melodik mitreißend, liedhaft und gleichzeitig von Beginn an von einer sehnsuchtsvollen Schwere gezeichnet. Ambivalent, andersartig, raffiniert und doch einprägsam – eine faszinierende Mischung. Georges Bizet komponierte sein Werk als Opéra comique, dementsprechend mit gesungenen musikalischen Nummern, durchbrochen von gesprochenen Dialogen und Melodramma-Passagen. Nach Bizets Tod komponierte Ernest Guiraud anstelle der gesprochenen Dialoge Rezitative, um das Werk an die landläufigen Vorstellungen des 19. Jahrhunderts von einem gelungenen Opernstück anzupassen. Der Charakter des Werks wurde dadurch jedoch stark verändert. Der musikdramaturgische Gehalt, der aus dem Wechsel zwischen Gesang und gesprochenem Wort hervorgeht, wurde zerstört, alles verschwimmt, der Akt des Singens wird nicht mehr exponiert. Heute wird zwar vermehrt wieder Bizets ursprüngliche Fassung aufgeführt, doch die Diskussion, ob nun Dialoge oder Rezitative verwendet werden sollten, bleibt.
Schon bei unserem allerersten Treffen in der Kantine zwischen dem Regisseur Christof Nel, Martina Jochem (sie übernimmt die szenische Analyse und explizite Figurenpsychologie) und mir, der Dramaturgin der Produktion, sprach Nel dieses Thema an und gedenkt es zusammen mit dem musikalischen Leiter Karsten Januschke radikal zu lösen. Der rauf und runter gespielte Kassenschlager der Oper wird zerschlagen, gearbeitet wird mit der Substanz des Werks. So sollen weder Rezitative, noch gesprochene Dialoge verwendete werden. Nur die musikalischen Nummern sollen als musikalischer Text, als die Essenz des Werks, herangezogen werden. Was dazwischen passiert, ist Teil einer Expedition des ganzen Produktionsteams in den mythenumwobenen Stoff um Prosper Mérimées und George Bizets Carmen-Figur. Eine gemeinsame Reise einer zeitgenössischen Gruppe an verschiedenen Menschen, die der Frage nachspürt, was der Stoff heute noch in uns auslösen kann, wenn wir ihn jenseits aller Konventionen betrachten, ihn in seiner ganzen Rohheit auf uns wirken lassen.
Wer neben dem Bayerischen Rundfunkorchester Teil der musikalischen Forschungsgruppe wird, wird sich ab dem 22. Oktober entscheiden, beim Vorsingen der Musiktheater/Operngesang-Studierenden für die Musiktheater Produktion im Großen Haus des Prinzregententheater. Auf die Premiere am 18. Februar 2016 können alle sehr gespannt sein.