Einen für Deutsche Schauspiel-Studierende völlig ungewohnten Unterrichtsstil durfte Andrej Agranovski in seinem Auslandsstudium im Russian State Institut of Dramatic Arts in St. Petersburg erfahren. Welchen Sinn und Zweck der Drill erfüllt und warum er das Angebot, in Russland weiter zu studieren ausschlug, verrät er im Folgenden.
Zur Struktur
Der erste Monat war für mich eine große Umstellung. Zum einen die strenge Kleiderordnung beim Bewegungsunterricht, die schwarze Pantalones und schwarze T-Shirts beabsichtigte. Auch der Arbeitsrhythmus, der wiederum gar keine Klarheit beinhaltete, forderte Ausdauer (es gab zwar einen strukturierten Arbeitsplan, der die Abfolge der Unterrichte angab, aber wann genau der Unterricht endete, entschied alleine der Meister am Tag selbst).
So begann der Tag um 9 Uhr morgens mit drei Stunden Bewegungsunterricht und endete kurz bevor der Pförtner die Räume abschloss um ca. 23 Uhr.
Vor allem aber war für mich das Verhältnis zwischen den Dozenten und Studenten besonders ungewohnt: Der Meister des jeweiligen Jahrgangs ist offen für Diskussionen, seine Meinung ist aber nicht anzuzweifeln. Jeder Dozent wird immer gesiezt. Sobald ein Dozent den Raum betritt, muss sich der ganze Jahrgang – zur Begrüßung dessen – erheben und darf sich erst nach der Erlaubnis des jeweiligen Dozenten wieder setzen. Für jeden Tag wird unter den 26 StudentInnen im Jahrgang ein „Tagesherr“ bestimmt, der dafür zuständig ist, dass vor jedem Unterricht der Unterrichtsraum sauber gemacht und dem Dozenten Tee mit Keksen zubereitet wird. Außerdem muss ein Plan des Tages vorliegen, der – möglichst kreativ gestaltet – die Namen der Abwesenden und den Tagesplan in Stichpunkten darstellt.
Zum Unterricht
Vor jedem Bewegungsunterricht wurde erwartet, dass die Studierenden sich gedehnt und aufgewärmt haben, um vor der Anwesenheit des Dozenten schon arbeitsbereit zu sein.
Während der Tanzunterricht sich hauptsächlich dem Klassik- und Charaktertanz zuwandte, wo es um eine klare Ästhetik und schauspielerische Arbeit in der Bewegung geht, war der Akrobatikunterricht darauf ausgelegt, die körperliche Flexibilität auszubilden. Das bedeutete, dass neben akrobatischen Tricks wie Flick Flacks, Handstand, Saltos usw. auch andere Fertigkeiten wie Steppen, Jonglieren, Balancieren auf einem Seil usw. erlernt wurden. Die StudentInnen mussten dann am Ende des Semesters eigenständig, sowohl im Tanz-, als auch im Akrobatikunterricht, Nummern einstudieren, bei denen sie das Erlernte zeigen konnten.
Nach drei Stunden Bewegungsunterricht am Morgen folgte der Theorieunterricht, der sich aufteilte in Bildende Kunst (der dann in Museen stattfand), russische Theatergeschichte, internationale Theatergeschichte und Literatur/Schauspieltheorie. In allen vier Theoriefächern fand am Ende jedes Semesters eine mündliche Prüfung statt. Zunächst fand zwei Mal pro Woche Sprechunterricht mit dem ganzen Jahrgang und zweimal pro Woche Duo-Sprechunterricht statt. Der Inhalt des Sprechunterrichts kam aber keineswegs in Berührung mit dem Schauspielunterricht, da der Meister der Sprechabteilung für die allgemeine Ausbildung des szenischen Sprechens zuständig war.
Wenn der Sprechdozent den Raum batrat, sprach sich die Klasse gemeinsam ein, indem ein Studierender das Einsprechen anführte und der Jahrgang die Übungen nachmachte. Dabei standen alle StudentInnen im Kreis um den Meister und den Studierenden, der das Aufwärmen leitete, bis der Meister unterbrach.
Dann gab selbiger eine Übung vor. Meistens erfundene Vokal- und Konsonantenkombinationen, die wie Zungenbrecher klangen und anhand der Vokalkette variiert wurden. (z.B „Wdwrudr, Wdwrodr, wdwradr, wdwredr“ usw.). Die Klasse wiederholte den Zungenbrecher drei bis vier Mal, dann rief der Meister jeden Studenten einzeln dazu auf, die Übung vorzumachen. Durch den Druck und die Ehrfurcht begann somit ein Wettbewerb unter den Studierenden. Der Meister zwang die Studierenden, den Zungenbrecher so oft zu wiederholen bis es einer endlich fehlerfrei schaffte. Dann begann der Unterricht.
Wir arbeiteten an dem Roman Evegeny Onegin von Alexander Sergejewitsch Pushkin. Die Voraussetzung hierfür war, dass jeder den kompletten Text auswendig lernen musste, damit alle Rollen im Stück probiert werden konnten. Das heißt, dass jeder somit auch ersetzbar war und keine Rolle festgeschrieben blieb.
Das Ganze sah dann wie folgt aus: Diejenigen, die einen Ausschnitt bzw. Monolog oder Szene probierten, gingen in die Mitte des Kreises und arbeiteten bis zu dem Moment, in dem der Meister unterbrach. Die entscheidende Aufgabe dabei war es, jeden Gedanken so groß wie möglich zu denken und auszudrücken. Der Meister gab dabei keine Hilfestellungen wie es richtig sein müsste oder wie der Studierende zu einem richtigen Ergebnis kommen könnte. Sollte der/die StudentIn es jedoch nicht hinkriegen, die Arbeitsanweisungen des Meisters zu erfüllen, tat sich die Möglichkeit für alle anderen auf, diese Rolle zu übernehmen und es besser zu machen. Also begann erneut ein Kampf um die Möglichkeit, etwas zu spielen. So habe ich im März bei der kleinsten Replik, bestehend aus einem Satz, angefangen und endete im Juni bei der zweiten Hauptrolle des Lenskij, die ich jedoch vor meiner Abreise wieder abgeben musste. Letztlich konnte ich aber beobachten, dass die Klasse sich in der Arbeit entscheidend geteilt hatte. Einerseits die Leute, die ständig probierten, Erfolge erzielten und gelobt wurden und andererseits diejenigen, die es nicht beim ersten oder zweiten Mal hinbekamen und praktisch kaum mehr am Unterricht teilnahmen bzw. auch nicht teilnehmen konnten. Für viele war der Druck auch so groß, dass sie sich freiwillig aus der Arbeit zurückziehen wollten und damit rechnen mussten, dass sie in dem Fach durchfallen würden. Auf meine Frage, warum denn mit so einem großen Druck gearbeitet werden müsse, bekam ich die Antwort, dass der Meister bewusst diese Atmosphäre von Stress und Angst herstelle, damit die Studenten lernen, diesem Druck standhalten zu können, um auf der Bühne erst recht zu funktionieren (auch wenn man dabei „gebrochen“ würde).
Der Sprechunterricht bei Jurij Vasiljev unterschied sich dagegen enorm von den oben genannten Methoden. Bei Jurij arbeiteten wir viel mit der Vereinigung von Bewegung und Stimme. Jede Unterrichtsstunde wärmten wir uns mit Zungenbrechern auf, die mit einer unterstützenden Bewegung im Körper verbunden waren. Jurij zeigte vor und die Klasse wiederholte.
Besonders neu war, dass weder an Atem, noch Stimmklang technisch gearbeitet wurde, sondern nur an der klaren Führung der Gedanken im gesprochenen Text. Seine Argumentation dahinter besagte, „dass der Klang der Stimme im richtigen Atem geboren wird, der wiederum nur dann entsteht, wenn ich meinen Partner oder den Zuschauer mit einem klaren Gedanken berühren will.“
So arbeiteten wir an den antiken Chören aus Ödipus von Sophokles und den Eumeniden von Aischylos. Dabei bestand die Arbeit darin, dass wir im Laufe der Woche selbstständig Chorpassagen vorbereiten mussten, um sie dann in der Gruppenstunde dem Dozenten zu zeigen.
Den letzten Teil des Tages füllte der Schauspielunterricht. Jede Unterrichtsstunde begann mit einer Moderation des „Tagesherren“, der die Anwesenheitsliste vorlas. Diejenigen, die bei den Unterrichten davor abwesend waren, mussten dem Meister eine schriftliche Erklärung von mindestens einer vollen Seite vorlegen. Fehlenden – ohne schlagkräftigen Grund – war die Teilnahme am Schauspielunterricht untersagt und der Meister schickte sie ohne Kompromisse weg. Der Rest der Klasse nahm Platz neben dem Meister, da es verboten war, hinter ihm zu sitzen. Dann folgte die künstlerische Einführung in die Arbeit. Diese bestand daraus, dass einer oder mehrere Studierende entweder einen künstlerischen Rückblick der vergangenen Tage oder eine eigene Performance zum Thema der folgenden Arbeit darstellten.
Daran anschließend arbeiteten wir an dem Stück Die Weiber von Anton Tschechow. Bei dieser Produktion nahmen nur zehn von 26 Studenten teil. Der Rest musste im Publikum sitzen und zuschauen, um in der Nachbesprechung den Schauspielern Kritik geben zu können. Leider konnte ich mich dadurch in diesem Arbeitsprozess wenig beteiligen. Das war auch der Grund dafür, warum ich praktisch den ganzen März nie zum Spielen kam und nur zugeschaut habe. Andererseits konnte ich auch durchs Zuschauen viel über die Schauspielmethode, die dort unterrichtet wird, lernen.
Zur Unterrichtsmethode
Der Schauspielunterricht ist komplett geprägt von Stanislawskis Schauspieltheorie und somit ging es – nach der Meinung unseres Meisters – nicht darum, wahrheitsgetreu das Leben auf der Bühne abzubilden, sondern wirklich auf der Bühne zu leben. Ich war ziemlich skeptisch, habe aber bald gemerkt, dass jegliche Diskussionen zu diesem Thema sinnlos waren. Damit man es also schaffe, auf der Bühne „Leben“ herzustellen, müsse man zuerst den Inhalt der Figuren und des Stückes mit Leben füllen. Bevor man sich also an den Text wage, beginne man die Arbeit an einem Stück immer zuerst mit Etüden. Etüden werden als „Mutige Improvisation, von mir selbst ausgehend“ definiert . Durch Etüden wird nun also versucht, herauszufinden, wie ich als Andrej in der Situation meiner Figur handeln würde, um Gemeinsamkeiten und Gegensätze zu entdecken.
Wie waren die Verhältnisse der Figuren untereinander vor der ganzen Geschichte? Was passiert in den Szenen? Was sind die Subtexte? Und viele andere Fragen werden durch diese Improvisation geklärt. Mit der Zeit beginnt man dann, den improvisierten Text mit dem Text des Autoren zu verbinden. Im Idealfall fand sich oft durch die Improvisation eine Form, die es ermöglichte, eine Spielfreiheit zu bewahren.
Neben Etüden auf der Bühne probierten wir auch Etüden an den echten Spielorten, die in den Stücken beschrieben waren z.B. in Bars, in der Innenstadt, im Park. Dabei wurde oft viel klarer, in welchen Umständen wir uns befinden und so versuchten wir, diese Erfahrungen aus dem echten Leben auf die Bühne zu bringen, um dem Leben näher zu kommen.
Ein weiterer wichtiger Part des ganzen Prozesses war die Arbeit an der „Erinnerung physischer Wahrnehmungen“. Das bedeutet, konkrete körperliche Wahrnehmungen von Kälte, Nässe, Hitze, usw. im Körper abzuspeichern und wieder hervorholen zu können. Dafür gingen wir – wenn die Szene beispielsweise im Regen gespielt hatte – in den Regen und speicherten unsere Wahrnehmungen ab. Danach gingen wir auf die Bühne und versuchten mit allen möglichen Hilfsmitteln wie Musik, Licht und ggf. Requisiten, den Körper durch die Erinnerung der physischen Wahrnehmung in jenen Zustand zu versetzen.
Um dem Arbeitsstoff näher zu kommen, forderte der Meister jede Woche eine variierte Erzählung des Stückinhalts in eigenen Worten, um zu verdeutlichen, um was es überhaupt geht. Dies sei nur möglich, wenn wir die hundertprozentige Vorstellung dessen hätten, wie die Umstände der Geschichte seien. Um diese klar vor Augen führen zu können, wurde jede Szene höchstdetailliert auf W-Fragen untersucht und gleich danach in Etüden nachgespielt. Zusammenfassend sei also das Hauptkriterium für diese Methode die Vereinigung von Vorstellungskraft, nachgeprüft durch die selbst gemachte Erfahrung, die physische Wahrnehmung und die Klarheit der Gedanken meiner Figur, geklärt durch die W-Fragen.
Obwohl unsere Arbeit sich hauptsächlich auf Tschechow-Stücke bezog und mir auch sehr plausibel erschien, kam ich bald zu der Frage: Wie soll man aber beispielsweise antike Stücke spielen, die keinerlei lebensgetreue Umstände bieten und weit über die realistische Vorstellungskraft gehen? Schließlich werde ich im echten Leben niemals einem Gott begegnen können oder selbst einer werden. Da musste der Meister auch zustimmen, erwiderte aber, dass sie nicht interessiert seien, solch eine Theaterform zu spielen bzw. zu unterrichten.
Neben dem Unterricht mit dem Meister wurde einmal pro Woche an Beobachtungen gearbeitet, bei denen ich etwas mehr zu tun hatte. Wir wurden auf die Straßen von St. Petersburg geschickt und beobachteten Menschen. Was leider ziemlich suboptimal war, war die Tatsache, dass wir ja täglich Unterricht hatten und nur auf dem Hin- oder Rückweg Leute beobachten konnten. So beschränkten sich die Beobachtungen hauptsächlich auf Obdachlose, Alkoholiker oder erschöpfte Arbeitsleute, die zur oder von der Arbeit fuhren. Ich entschied mich, einen Opa zu studieren, der Tauben fütterte. Mein erstes Zeigen dessen war ein kompletter Reinfall, da ich mir zwar das Aussehen und die Bewegungsqualitäten meiner Beobachtung zu Herzen nahm, aber weder geklärt hatte, woher er kommt, wohin er geht, noch ob es kalt ist oder warm, Tag oder Abend usw. Alle diese Details sollten für den Zuschauer verständlich sein. Für mich ziemlich verwirrend war hingegen die ständige Kostümkritik: „Die Schuhe sind viel zu sauber wenn er sie ständig anzieht“ oder „Die Brille ist viel zu modern für einen alten Opa“, „Der Laufstock ist aus einem anderen Jahrhundert. Es ist nicht glaubhaft.“ Da der Fundus eigentlich nur ein Berg von ehemals mitgebrachten oder gespendeten Klamotten war, gab es leider nicht so viele Möglichkeiten, sich glaubhaft zu kostümieren. Darum wurden beispielsweise auch selten Polizisten gezeigt.
Worauf ich ebenfalls nicht vorbereitet war, war das komplett andere Feedbackverständnis. Eigentlich war jeder Kommentar von den Zuschauern entweder reine Kritik oder eine Beschreibung der Wirkung dessen, bezogen auf das Gefühl, das das Geschehen auf der Bühne bei ihnen ausgelöst hatte.
Zum Ende jeder Unterrichtsstunde stellte sich der ganze Jahrgang mit jeweils einem Sitzhocker in den Händen im Kreis um den Meister herum und führte folgendes Ritual aus: Der „Herr des Tages" nahm seinen Hocker und stellte ihn langsam auf den Boden. Der Jahrgang passte sich an die Geschwindigkeit des "Tagesherren" an und alle stellten gleichzeitig ihre Hocker vor sich. Darauf folgend atmete eine/r an und alle setzten sich gleichzeitig – in einem gemeinsamen Tempo – auf die Hocker. Manchmal zählte der Meister bis zehn und alle mussten innerhalb dieser Zeit einen perfekten Sitzkreis zusammenstellen.
Danach rief der Meister Studierende auf und diese sollten ihre Sicht der Dinge bezüglich der Arbeit äußern. Abschließend sagte der Meister zusammenfassend etwas zu jedem Studenten und rückblickend etwas zur Arbeit des vergangenen Unterrichts.
Mein Fazit
Abschließend kann ich nur sagen, dass ich die Zeit in St. Petersburg nicht einfach fand, da der hohe Leistungsdruck und der Mangel an Ruhe und Schlaf nicht leicht zu bewältigen waren. Meistens blieben die StudentInnen gleich über Nacht in der Akademie, um zu proben oder Texte zu lernen. Tagsüber nahm sich die eine Hälfte des Jahrgangs die Plätze zum Schlafen, während der andere Teil Mittagessen ging. Nach eineinhalb Stunden wurde getauscht. Auch die Spind-Situation war schwierig. Es gab nämlich keinerlei Aufbewahrungsmöglichkeiten. Also baute ich mir eine Art Schrank aus Holzbrettern, um dort meine Sachen für den Unterricht zu lagern. Auch wenn ich nach dem ersten Monat am liebsten wieder zurück nach München geflogen wäre, hat es sich dennoch gelohnt, dieses Bootcamp in St. Petersburg auszuhalten. Vor allem in der Kommunikation mit dem Jahrgang habe ich tolle Bekanntschaften machen und mich schauspielerisch in der Arbeit austauschen können. Im Vergleich der verschiedenen Unterrichtsmethoden haben wir doch gemerkt, dass die Methoden an sich gar nicht so verschieden sind, nur möglicherweise anders überliefert werden. Auch von der Seite der russischen Studenten kam viel Interesse für das deutsche Theater, da sich ihr Wissen hauptsächlich nur auf Schiller, Nietzsche und Brecht beschränkt.
Letztlich wurde mir sogar angeboten, im Jahrgang zu bleiben und im dritten Jahr offiziell mit einzusteigen. Trotz der starken neuen Bindung zu meinem Jahrgang, die sich innerhalb dieser drei Monate entwickelt hat, zog es mich aber doch zurück nach Deutschland.