Mailand ist nicht nur die Stadt der Mode. Mailand ist, denkt man an Kunst und Kultur, auch der berühmte Dom, Leonardo da Vincis Abendmahl, die Scala und eben und vor allem ein wichtiges lebendiges Zentrum italienischen Films und Theaters. Giorgio Strehler, der bedeutende Regisseur und Erneuerer des italienischen Nachkriegstheaters, einflussreich in ganz Europa, gründete hier zusammen mit Paolo Grassi 1947 das Piccolo Teatro. Es war das erste staatlich subventionierte Theater mit festem Ensemble in ganz Italien. Einige Jahre später riefen die beiden eine zugehörige Theaterschule ins Leben, die seit den achtziger Jahren den Namen Paolo Grassis trägt und seit dem Jahr 2000 als "Civica Scuola di Teatro Paolo Grassi" von der Kommune Mailand, losgelöst vom Piccolo, geführt wird.
Heute befindet sich die „Paolo Grassi" in einer ehemaligen Molkerei und Joghurtfabrik, eingerahmt von anderen kommunalen Schulgebäuden, einem Park und einer Straße, die berühmt für ihren Uringestank ist – Netter Kieselsteinspritzschutz an der Hauswand, Grünstreifen oder ähnliche fromme deutsche Einrichtungen sind in Mailand eher rar. Wo sonst LadenbesitzerInnen, Conciergen oder AnwohnerInnen mit einem Eimer Wasser ihren morgendlichen Kontrollgang machen, kümmert sich hier in der etwas abgelegenen Via Salasco – außer vor der Grundschule – niemand um die zahlreichen Pfützen, die von Hunden und vor allem nächtlichen Schwärmern mit reichlich Blasendruck an der langen das Gelände umgebenden Mauer verursacht werden.
Doch hat man den Vorhof der Schule erst betreten, ist der stechende Geruch schnell verflogen. Normalerweise stößt man hier bereits auf die Vorboten des typischen Gewusels einer Theaterschule, an der neben Schauspiel, Regie und szenischem Schreiben auch moderner Tanz gelehrt wird. Im Falle der Paolo Grassi inszenatorisch verstärkt durch die Enge des Raumkonzepts und den italienischen Stil der Dialoge, geprägt von flotten Anschlüssen und zumeist dramatischem Unterton. Doch in diesen Tagen ist alles ein wenig anders.
An diesem Ort, der weniger geschichtsumwittert wirkt, als es die Institution sein mag, findet zum zweiten Mal das internationale Projekt Terre Promesse statt. „Metropolis" lautet der diesjährige Titel und wie im gesamten Projekt, so dreht sich auch bei Metropolis alles ums Thema Migration. Wie verändern sich unsere Städte durch die ihre Entwicklung schon immer wesentlich beeinflussenden Bewegungen der in sie und durch sie hindurch ziehenden Menschen? Und wie angesichts der aktuellen Fluchtbewegungen?
Aber von vorne. Das erste Mal betreten Gineke und ich die Schule Ende Mai. Viel wissen wir noch nicht, nur dass wir am Laboratory of Ideas teilnehmen werden, welches den thematischen Einstieg in die Arbeit markieren und schlussendlich erste Konzepte in Gruppenarbeiten entstehen lassen soll. Denn schon im Oktober werden hier eine ganze Reihe kleiner neuer Theaterstücke zur Uraufführung kommen. Wer an dieser Stelle an Workshops, Kreativtechniken, Methoden- und Moderationskoffer denkt, liegt falsch. Vorträge, lange Podiumsgespräche und anderes Frontales bilden das Programm der ersten Tage. Natürlich, wie es sich für ein internationales Projekt gehört, fast ausschließlich auf Italienisch. Immerhin gibt es SimultandolmetscherInnen. Ob es daran liegt, dass ich mit einem Ohr versuche meine ausbaufähigen Italienischkenntnisse zu schulen, anstelle in Stereo mein Englisch zu ölen, oder daran, dass die Kopfhörer in meinen Gehörgängen bei längerem Gebrauch penetrante Schmerzen verursachen, daran dass Nächte und damit auch Konzentrationsphasen kurz sind oder dass der Synchronisations-Singsang gepaart mit lauten Atemgeräuschen und Seufzern der DolmetscherInnen einfach anstrengend ist – ich verstehe maximal die Hälfte.
Ohnehin viel hilfreicher sind die „working tables“, die gegen Ende unseres ersten Kurzaufenthalts eingerichtet werden. An diesen sprechen wir in größeren Gruppen frei (manche würden auch hier die Armut an Methoden bemängeln, aber mir gefällt's) mit den anderen Studierenden über Migration, über Veränderungen und Identität, über die Ängste unserer Landsleute und von uns selbst. Dass die Situationen in den verschiedenen Ländern aus denen wir hier zusammenkommen gänzlich verschieden sind, wird spätestens jetzt offenkundig. Nicht nur sind die sogenannten ökonomischen Voraussetzungen in Italien, Deutschland, Tschechien, der Slowakei, Rumänien oder Spanien sehr verschieden, insbesondere die politischen Gegebenheiten und das, was man öffentliche Meinung nennt, unterscheiden sich maßgeblich. In den osteuropäischen Ländern herrscht bekanntlich zumeist rigide Abschottung gegenüber Geflüchteten. Italien steht wiederum vor ganz anderen Herausforderungen als etwa Deutschland, landen hier doch täglich Boote mit Geflüchteten an, die vom afrikanischen Kontinent kommen. Schwierigkeiten, die natürlich vor allem die Schwierigkeiten der Betroffenen sind, die am meisten unter den schlechten Bedingungen leiden müssen. Deutschlands politische Verhältnisse, die Haltung der Regierung hierzulande und die (innenpolitischen) Folgen – das ist ohnehin kein einfach zu fassendes Thema. Aber ich gebe in den englischsprachigen Tischgesprächen mein Bestes, um meine Gedanken mit den anderen zu teilen.
Im Prinzip studieren die TeilnehmerInnen bei Terre Promesse entweder Regie, Szenografie oder szenisches Schreiben. Als Dramaturg bin ich die Ausnahme und komme natürlich das ein oder andere Mal in Verlegenheit, erklären zu müssen, was das überhaupt ist. Was schon auf Deutsch nicht ganz unkompliziert zu erläutern ist, wird auf Englisch auch in diesem Fall nicht unbedingt leichter. Das Berufsbild scheint in Italien jedoch nicht gänzlich unbekannt zu sein, wenn es auch nicht etabliert ist. Ebenso haben etwa die Studierenden aus Tschechien ihre (eigene) Vorstellung von Dramaturgie.
Das Stück verfasse ich dann im Sommerurlaub. Etwas anderes bleibt mir angesichts der Fülle an sonstigen Arbeiten für Uni und Akademie nicht übrig. Letztlich bin ich mit dem Ergebnis fast zufrieden. Aber wann ist man schon komplett zufrieden? Es folgt das Warten auf die Übersetzungen. Erst kommt die Englische und so kann die Regisseurin endlich den fertigen Text lesen und verstehen. Ein bisschen Videotelefonie um Verständnisfragen zu klären und konzeptionelle Ideen zu besprechen. Ein paar Tage bevor alles losgeht bekommen wir nach langem Warten schließlich sogar den italienischen Text – die Übersetzung scheint immerhin gut zu sein, ich bin erleichtert – und, was beinahe noch wichtiger ist, auch endlich eine Bühnenbildnerin. Emma ist Italienerin und studiert an der Kunstakademie in Brera, im Herzen Mailands und schickt gleich die ersten Ideen.
Gineke, als Regisseurin, und ich, als Dramaturg mit Stückauftrag, werden schlussendlich jeweils mit den KommilitonInnen aus Barcelona in Arbeitsgruppen eingeteilt. Die katalanische Regisseurin Laia Bohigas wird in der zweiten gemeinsamen Arbeitsphase im Oktober nicht nur mit großer Anspannung die parallel stattfindende vorläufige Unabhängigkeitserklärung Kataloniens verfolgen und feiern, sondern auch den von mir zu schreibenden Text inszenieren.
Als wir im Oktober wieder im Foyer der Paolo Grassi angelangen, ist die Stimmung merklich angespannter als noch im Frühjahr. Den Teams steht in den kommenden drei Wochen viel Arbeit bevor und einigen der zahlreichen angehenden "registe" (RegisseurInnen) und "drammaturghi" (DramatikerInnen), die gerade an der Mailänder Schule ihren Abschluss machen, drohen schlaflose Nächte. Die Schul- und Produktionsleitung macht nämlich gleich zum Auftakt unmissverständlich klar, dass sie mit einigen der über die Ferien entstandenen Stücke ganz und gar nicht zufrieden ist und speziell auf die heimischen Studierenden wird diesbezüglich fortan großer Druck ausgeübt. In den nächsten Tagen lässt sich gut beobachten, wie Theaterarbeit hier auch definiert wird: Es gibt einen klaren Produktionsgedanken, der über die starken Hierarchien manifestiert wird. Künstlerische Freiheit wird zugestanden, aber nur wenn die Ergebnisse die Erwartungen und Vorgaben der Leitung erfüllen und so kann es eben auch ein oder zwei Tage vor der Premiere passieren, dass der Schulleiter in der Probe auftaucht und alles über den Haufen wirft. Dies, wie auch die teilweise äußerst schwierigen innereuropäischen Einigungsprozesse in einigen Arbeitsgruppen, führen in jener Zeit nicht selten zu Tränen der Verzweiflung.
Mein Team hat allerdings Glück. Nicht nur scheint man von offizieller Seite mit meinem Text zufrieden, auch unsere Proben werden nicht großartig beobachtet, sondern es wird uns Vertrauen entgegengebracht. Jeden Vormittag arbeitet Laia mit den beiden italienischen DarstellerInnen an der Inszenierung auf unserer „Bühne“, nachmittags besprechen wir uns und planen gemeinsam den nächsten Probentag. Wir haben uns einen kleinen Proberaum im Flügel der Schule als Aufführungsort gewählt. Als Szenerie für mein Zwei-Personen-Stück „Dieser Welt gebe ich erst gar nicht die Hand“ (ital.: Io a questo mondo la mano non la stringo) haben wir uns für eine Nach-der-Party-Situation entschieden. Der Kniff fürs Bühnenbild ist schließlich, am Abend vor der großen Premiere mit allen Beteiligten von „Metropolis“ tatsächlich eine Party in unserem Raum zu feiern. Mit Zigaretten, Snacks, Drinks, lauter Musik und der Aufforderung, es bitte wild zugehen zu lassen. Ergebnis um Mitternacht: Das Bühnenbild steht und die Produktionsleitung ist etwas verwundert ob der performativen und freilich halblegalen Methoden der Szenografieherstellung, hält es aber für gelungen.
So streng hier die Methoden an vermeintlich unumgängliche Produktions- und Arbeitsbedingungen im freien Markt des italienischen Theaters angelehnt sein mögen, so entspannt wird andererseits der Freizeitgestaltung, die sich im Künstlerleben ja nie ganz von der Arbeit trennt, entgegengesehen. Gemeinsamer feuchtfröhlicher Abend- und Nachtgestaltung in und – ganz italienisch – vorzugsweise vor den umliegenden Bars sind auch die meisten BetreuerInnen und DozentInnen inklusive des Schulleiters nicht abgeneigt.
Am Tag der Premiere hat sich die ganze Schule herausgeputzt und die in den vergangenen Wochen aufgebaute Anspannung steigert sich ins Unermessliche. Das Publikum sammelt sich im Foyer und auf der Veranda, ehe es in einer Art Walkaround zu den verschiedenen Kurzstücken geleitet wird, die in den unterschiedlichsten Räumen, auf größeren und kleineren Bühnen aufgeführt werden. Mein Stück wird fortan noch eine Woche lang jeden Abend zweimal zu sehen sein, es gehört zu den Dauerbrennern im Programm. Während bei der Premiere noch alles ein wenig verkrampft und unrhythmisch läuft, wird es in den darauffolgenden Tagen deutlich besser und sowohl die Inszenierung meines Stücks als auch Ginekes Arbeit tragen dazu bei, dass das gesamte Projekt zu einem Erfolg wird.
Ich begebe mich bei entsprechender Gelegenheit selbst auf die Rundreisen, folge den variierenden Routen durch die Schule, für die natürlich ein Pass von Nöten ist, und genieße es, dabei als Zuschauer in immer neue Szenarien zu gelangen, immer wieder neue kreative theatrale Situationen zu erleben. Auch wenn ich nicht alles restlos verstehe, da schlussendlich alle Stücke auf Italienisch aufgeführt werden, fällt mir auf, dass es in den Arbeiten kaum wirklich konkrete Ansätze zum Thema gibt. Dass es nicht unbedingt Bühnenbilder aus Schwimmwesten oder auserzählte Fluchtgeschichten braucht, wenn man heutzutage im Theater von Migration sprechen will, ist klar und in dieser Hinsicht bin ich sogar erleichtert, hier keinen fragwürdigen Repräsentationskonstellationen ausgesetzt zu werden. Dennoch überrascht mich, wie sehr die Thematik die meisten der europäischen KollegInnen dazu zu verleiten scheint, sich in Metaphern und Analogien zurückzuziehen. Stücke, die sich am Vorhandenen abarbeiten, deren Material in irgendeiner Form konkreten Bezug auf unsere Lebenswelt nimmt, entdecke ich kaum. Vielleicht nur eine Frage des künstlerischen Ansatzes. Oder überfordert uns das Thema doch ein wenig und fehlen die erzählerischen Mittel – gerade in Anbetracht der zwangsläufig kurzen Spieldauer? Oder – hin und wieder erwische ich mich unweigerlich bei diesem ketzerischen Gedanken – hat es am Ende womöglich nie so richtig interessiert, war alles nur Mittel zum Zweck?
Abgesehen von solchen inhaltlichen Bedenken und den sich anschließenden Zweifeln, warum wir dieses ganze Theater denn eigentlich veranstalten, wenn uns so wenig an seinen Inhalten liegt, stellt sich gegen Ende natürlich Wehmut ein. Nach zusammengenommen einem Monat gemeinsamen Arbeitens und Lebens in Mailand (beziehungsweise im Umkreise der Via Salasco – ins Zentrum habe ich es kaum geschafft und dem Abendmahl musste ich daher leider fern bleiben) ist mir hier alles ans Herz gewachsen. Vom Uringestank aufwärts quasi. Schlussendlich bleiben uns tatsächlich Freundschaften, die sich vielleicht eines Tages auch wieder in gemeinsamen Arbeiten ausdrücken werden. Nicht zu vergessen: ein riesiger neugewonnener Erfahrungsschatz über Schwierigkeiten und Chancen internationalen Arbeitens, italienisches Theaterverständnis und katalanisches Pathos, spannende andere Theaterkulturen und Arbeitsansätze, die Kunst einen guten Text für die Bühne zu schreiben und das Glück, dabei gewesen zu sein.