« Attendre », frz. für "warten": Ein Auslandssemester in Zeiten von Corona

Anfang Januar ging unsere Schauspielstudentin Magdalena Laubisch für ein Auslandssemester nach Paris. Vier Monate später sitzt sie zusammen mit Freund*innen im Dreiseelendorf Émancé, mitten auf dem Land, fernab der Großstadt, die nächste Uni eine Stunde entfernt. Ein Text über das Hier und Jetzt, die Internetversorgung im französischen Hinterland und warum es manchmal besser ist, dem Warten eine Absage zu erteilen.

Am Morgen des 16. März packte ich zwei Taschen, verabschiedete mich von meinen Mitbewohnern in Paris und stieg in die Metro Richtung Montrouge. Héloise und ich wollten eigentlich erst morgen fahren, aber binnen weniger Stunden wurde uns mitgeteilt, dass ab morgen 12 Uhr keine Möglichkeit bestehe, seinen Standort zu wechseln. Am Nachmittag kamen wir in Émancé an. Ein kleines Dorf, circa eine Stunde südlich von Paris mit 880 Einwohnern, laut Wikipedia. Am Abend rief eine Freundin an, sagte, dass sie es nicht aushalten würde, die kommenden vier Wochen mit ihrer Familie zu verweilen und man beschloss, kurz um ins Auto zu steigen und sie mit einem gemeinsamen Freund abzuholen.

Am 6. Januar begann mein Semester am Conservatoire national superieur d'art dramatique in Paris. Gemeinsam mit 23 Studierenden des Conservatoire und unserer Regisseurin Sandy Ouvrier arbeiteten wir an Stücken von Brecht (Furcht und Elend des Dritten Reichs) und Seneca (Agamemnon und Die Trojanerinnen). Wir lasen gemeinsam die Stücke und begannen zu diskutieren. Wie differenzieren wir Angst und Furcht? Welche Unterschiede gibt es zwischen Krieg und Terrorismus? Wie erschafft man eine derartig einengende Situation im Theater? Nach Improvisationen folgten erste Szenen. Die Arbeit begann, in einen Fluss zu kommen, der jedoch mit dem 13. März ruckartig unterbrochen wurde.

Nun sind wir, wie viele anderen Schulen in Deutschland, auch auf das Internet angewiesen. Da ich mich jedoch in einem Haus befinde, das weder über einen Internetanschluss noch ein Telefon verfügt, stellte sich die Situation problematischer heraus, als gedacht. Seit Anfang April kommuniziere ich nun mit meinen Professoren via eines „Internet-Clés" und hoffe stetig, dass meine gekauften 70GB bis zum Monatsende reichen. Neben Gesangsunterricht und Theatergeschichte via Teams (eines dieser vielen Programme, die nun jeder schon einmal ausprobiert hat) treffe ich mich wöchentlich mit der Regisseurin auf ein Telefongespräch. Sie forderte uns auf, Bücher, Musik und Filme, die uns an Szenen oder Atmosphären in unseren Stücken erinnerten, miteinander zu teilen, und sehr schnell folgten erste Videoaufnahmen, Gedichte und Monologe. Da mein Szenenpartner und ich 500 km voneinander entfernt sind, entschied ich mich, einen inneren Monolog zu schreiben. Unsere Szene „Der Spitzel" aus Furcht und Elend des Dritten Reichs zeigt eine bürgerliche Familie im NS-Staat.  Die zunehmend existierende Angst vor Denunziation und Verrat destabilisiert mehr und mehr jegliche Art von Beziehung und spaltet die Familie in zwei Parteien: der Sohn als möglicher Verräter und seine Eltern als mögliche Verratene.

Man liest: „Köln, 1935. Regnerischer Sonntagnachmittag". Die Frau sitzt herum und flucht über den Regen. Sie will raus, will Leute sehen, denn „früher konnte man sich doch wenigstens mit jemandem treffen" … 

- ein kleiner akustischer Einblick -


J`attends. Ich warte, damit endet Die Frau. Derzeit warten wir alle. Wir warten darauf, ein Stück weit unsere „Normalität" wiederzubekommen, uns wieder frei bewegen zu können und Freunde und Verwandte zu sehen.

Ich habe in den letzten zwei Monaten auch viel gewartet. Gewartet, dass es vorangeht, weitergeht. Doch nachdem unser Stück vorerst abgesagt wurde und klar war, dass das Conservatoire bis zum Ende des Sommers geschlossen bleibt, habe ich aufgehört zu warten. Habe versucht, im Hier und Jetzt anzukommen und meine wehleidige Laune beiseite zu schieben. Und so vergingen die Wochen, voll von Erlebnissen und verschiedensten Stimmungen, die ich hier kaum wiedergeben kann.

Heute ist Donnerstag, der 7. Mai. Wir sitzen zu viert im Garten, die Sonne scheint. Héloise interviewt ihren Vater per Telefon, Marceau schreibt an seiner These zu Shakespeare und Lucie liegt in der Hängematte und liest. Und ich, ich glaube, dass ich mich noch lange an diese Zeit erinnern werde.

Seit Januar 2020 absolviert Magdalena Laubisch aus unserem Studiengang Schauspiel ein Auslandssemester im Rahmen des Erasmus-Programms in Paris.
Die Theaterakademie August Everding ist seit 2018 Inhaberin der ECHE (European Charta of Higher Education) und somit Mitglied des Austauschprogramms Erasmus+, das weltweit Studierenden und Dozierenden ganze Studiensemester oder kürzere Arbeitsaufenthalte im Ausland ermöglicht.

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