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Regiestudent David Moser hat am diesjährigen Festival in Aix-en-Provence am Workshop "Opera and New Technologies" im Rahmen von enoa teilgenommen.

 

TAGEBUCH-BLOG // AIX EN PROVENCE

Vom 12. bis zum 19. Juli 2019 war ich im Rahmen des Opernfestivals in Aix-en-Provence in Frankreich bei einem Workshop mit dem Titel "Opera and New Technologies" unter der Leitung des Komponisten und Regisseurs Michel van der Aa. Ich habe jeden Tag ein Selfie gemacht und etwas dazu aufgeschrieben.

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12/07/19

Der TGV fährt mit 248 Stundenkilometern durch Europa. Hinter Avignon stellt sich ihm eine Ziegenherde in den Weg. Es ist ein friedlicher Protest gegen die Schnelllebigkeit der Gesellschaft, während ich hinter dem Zugfenster Sonnenuntergänge in Provence-Landschaften zu erkennen versuche. Auf ZEIT-Online ein Artikel über die AGING-Konferenz in New York. Ein Forscherteam behauptet bei neun Männern zwischen 50 und 60 Jahren das biologische Alter um bis zu zwei Jahre zurückversetzt zu haben. Auch der Tod ist bald kein Thema mehr. Auch dagegen protestieren die Ziegen.

Ich frage den Zugführer, ob ich mal rausschauen darf. Da steht auf einem großen Transparent eines weißen Wiederkäuers zum Beispiel: Ich bin nicht Europa. Und weiter: Ich bin nicht Europa, denn ich bin verschwitzte 25 Jahre alt. Wie sollte ich Europa sein? Europa ist eine alte Dame, Europa ist manchmal schon ein bisschen dement – und es ist schön, wenn die Erinnerung nachlässt. Es ist so schön und friedlich, und wenn man die klaren Gedanken selig davonziehen lassen kann, dann ist das nichts, nur schön.

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In Aix-en-Provence sind es 35 Grad Celsius um 22:30 Uhr. Fahrkartenkontrolle im Bus Richtung Innenstadt. Standardtarif: 6,00€. 4,50€ für Studenten. Ich habe keine Lust meinen Ausweis zu zeigen, ich zahle den vollen Preis. Das mache ich manchmal. Ich weiß nicht wieso.

Mein Hotelzimmer hat eine Mikrowelle und eine Filterkaffeemaschine. Filterkaffee in Südfrankreich, das sind kulturelle Schichtungen, das ist der Austausch unserer gemeinsamen Werte. Es gibt Ruhe und wohltuende Einsamkeit, Kaffee-Set-Kekse zum Abendbrot und Zigaretten auf dem Balkon. Er liegt im ersten Stock, direkt über dem Eingang des Hotels.

Übrigens: Manchmal bin ich doch eine alte Dame. Dann schaue ich vom Balkon und notiere mir, wer das Haus betritt. Ein bisschen Überwachung. Nur für mich zum Privatgebrauch. Einigen von ihnen, den Notizen, werde ich morgen Namen und Geschichten und Berufe geben können. I am a multidisciplinary artist stand in einer Vita. Ich muss nur aufpassen, mich nicht anzustecken.

Zum Abschluss: Hotelzimmer-TV, dösend. Ich teile mir mein Zimmer mit einer alten kritischen Ziege. Künstlern gegenüber ist sie eher skeptisch.

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13/07/19

Die Tage, die keine Tage sind, sondern Vorschlaghämmer. Nescafé, zwei Mal über die Treppe im Supermarkt fallen, im Bad den Kopf gestoßen, im Aufzug kein Bonjour. Meine Nerven schälen sich langsam an die Hautoberfläche. Upside: Mein Französisch lässt dermaßen zu wünschen übrig wie ein schlechtgestricktes Paar Socken unter dem Weihnachtsbaum. Auf, na los, ich komme zu spät!

Vorstellungsrunde:
Das ist René, René ist aus den USA. Für René ist Europa ein Haufen gutaussehender well-educated Südfranzosen, die sonnenbebrillt und sommerkleidbekleidet durch viel zu kleine viel zu alte Straßen stapfen. René ist Komponistin. Für René ist das alles ein Traum und ein Klischee und das beste und schlechteste davon zugleich.

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Podiumsdiskussion zwischen Michel van der Aa und einem Neurowissenschaftler. Auch anwesend: ein Moderator und jemand der zu übersetzen versucht: Englisch-Französisch-Niederländisch. Die Themen machen es ihm leicht: Virtual Reality, Neuroscience und Mikrobiologie, Kunst. Wir alle sind transhumans, nur das mit der Sprache, das ist schwierig. Michel sagt: Das Leben ist kein Algorithmus. heart and poetry. ratio, and form. // We are enlightened individuals.

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Vorstellungsrunde Zwei:
Ich bin der einzige, der noch studiert, zuweilen lenzisch: Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, dass er nicht auf dem Kopf gehn konnte. – Doch: Ich glaube das schaffe ich auch noch.

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Zwischenspiel – Wortspiele mit Aix:
AIXit
AIXodus
verhAIXt
AIXzentrisch
Etwas Auf AIX trinken

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Wir fahren ins Chateau La Coste. Freilichtkunstmuseum:
Ich stehe in der Mitte unserer Umwelt. Wasser. Müll. CO2.
Wir sind die Oberfläche und die Oberfläche ist die Oberfläche ist die Oberfläche. Wir spiegeln uns in den Kurven.
Dann: Ich bin eine Katze im Fass. Ich muss auf allen Pfoten gehen, ich muss mein Auge an das Licht gewöhnen hier im Fass. Hier ist es dunkel und zittrig. Ein umgedrehtes Nest unter der Erde. Ein Ort für Rituale. Es ist kühl und schattig. Es sind die Höhlen der Griechen, die ich hier betrete.

Zum Schluss: VR-Sound-Video-Installation: Eight. Was ist der Unterschied zwischen mir und einem virtuellen Menschen? Ich glaube: Sie atmen nicht. Sie stellen keinen Augenkontakt her. Der Kopf singt, doch der Körper ist lahm, kein Brustkorb, der sich weitet, keine Anspannung in den Halsmuskeln. Das erste Mal VR: Es ist sehr unterhaltsam; gamechanging? Es ist so: Die virtuelle Welt ist nicht das Problem. Sie fühlt sich nicht echt an. Das Problem ist die wirkliche Welt danach, sie fühlt sich virtuell an. Kurze Panik: ist die Raumzeit noch diskret? Nicholas aus dem Tech-Studio sagt: in 5-10 Jahren haben wir VR-Geräte, die leicht und tragbar sind und eine Auflösung haben, die dem menschlichen Auge entspricht. Deal with it.

Ich denke: Es ist schon absurd, dass wir zeitgleich eine endlose virtuelle Welt entwerfen, während wir unsere eigene zugrunde richten. Als würden wir leidenschaftlich daran arbeiten, diese sterbende Welt endlich verlassen zu können. Das Ziel liegt nicht im Weltraum, auf einem anderen Planeten. Hier ist es, versteckt zwischen Datenpaketen.
Gegenfrage: Aber wo findet diese virtuelle Welt denn statt, wenn nicht in unserer? Wer wird unsere Körper füttern und beatmen? Wer wird sie mit Wasser befüllen? Und wer setzt all den Pflanzen und den Tieren und den Toten ihre Brillen auf? Der Geist bleibt ein gebundener. Es gibt keine Welt hinter der Welt. Und wir werden sie auch nicht erschaffen. Sorry Nicholas, aber dann wären wir ja... Dings! Götter.

Interruption (again).
Wortspiele mit Aix:
Verlass diesen Planeten bevor du verrAIXt.

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Richtung Abend konnten Sie mich konzertbesuchend treffen. Wolfgang Rihm, dann Mahler. Die Abendgarderobe war heiter bis freundlich. Erziehung heißt: mitten im Liedzyklus wird nicht geklatscht. Ermahnende Steinigung als Strafe scheint quite legitim. Beim Libanesen wird gegessen. Zuweilen: Unangenehme Stille fraglos mitserviert.

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14/07/19

Diskussion in der (Ich-danke-der-Academy) Academy. Erinnernd an gestern. Alle sind gefangen von technischen Fragen. Luna, eine französische Regisseurin will über Ethik sprechen. Ob das wirklich spannender ist? Themenwechsel: Wie viel Realismus ist gewünscht, wieviel soll sichtbar werden im Werk, wieviel ist möglich in VR? Perfektion? Das war die Aufgabe, aber auch Michel sucht nach mehr Übersetzung, nach mehr dreamlike worlds. Aber: auch narrator sein, ein storyteller. Das heißt: Kontrolle über Zeit und Zeitstrang. Da streiten sich Komponist und Regisseur, manchmal auch in einem selber. Die Zeitachse: Das heißbegehrteste Subjekt der Kunst. Keiner will sie loslassen. Oder einer will sie freigeben zum Abschuss und der andere halt nicht.

Mittagspause. Entweder: Restaurants (not affordable) oder Supermarkt (closed on sundays, merde)! Es bleibt Käse und Brot im Hotelzimmer. Wortspiele mit Aix: Madame, mir schmAIXt's nicht. Ich glaube, ich brauche eine Heimat.


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Abends opernsehend für nen schlappen Dreißiger: Sleeping thousands: „My whole life I have only spoken nonsense. And where is the fucking crossword. There is no crossword in this paper!" Weltpremiere, tolles Stück, fantastische Musik. In der Presse wie immer: gute Fotos von schlechten Menschen. Oder war es andersrum?

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15/07/19

Guten Morgen Welt! Kurze Zwischenfrage: bin ich zu spät für alles oder ist alles schon längst zu spät?  Antworten bitte postalisch oder per Fax. Einsendeschluss ist, wann Sie wollen.

Es wird ernst: Wir machen Selbstpräsentationen – pitch, ich bin für dich den ganzen Weg gerannt, jeder hat fünfzehn Minuten, um über sich selbst zu reden. Ich habe immer mehr den Eindruck, es beschleicht mich langsam das Gefühl, ich komme nicht umhin festzustellen, dass ich wirklich nicht hierhingehöre. Ich rede mir das ein, na klar,... there are no excuses, but: Pitchen ist irgendwie ein undeutscher *hust* skill, glaube ich. Während alle alles pitchen, bin ich starrend, schweigend sitzend. Es ist so: Deutschland ist das Land, das gefangen zwischen Goethe und dem Wendler liegt. Und eigentlich sehen alle aus wie irgendjemand anders. Ich meine, ich will nur sagen: I am not your smalltalk-boy-kindof-guy. pls tAIXt me no more.

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Ich wache auf. Es ist 2:21 Uhr. Gustav Mahler hat sich im Schrank versteckt, Sinfonie der Tausend aus Hotel-TV-Speakern, wo ist meine Ziege?, (alleine). Ich will mir die Hände waschen. Ich will mir immer die Hände waschen. Der Schlaf fällt in meine Brust, als hätte er sich vom höchsten Kirchturm in Aix gestürzt. Ehrlich vor sich selber leben? Ich glaub, ich chAIX nicht.

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16/07/19

Langsam ankommend werden die Einträge kürzer, die soziale Praxis schlägt die Kunst 4:1, also wenn sie nicht zusammen spielen, gegen Oligarchen zum Beispiel. Eine Karte für Castellucci kostet 260€, Studentenrabatt – wir stehen vor dem Eingang und betteln um Karten, als hätten wir gerade unser CumEx-Aktienpaket in einer riskanten Börsenspekulation verspekuliert. -- bitte keine falschen Schlüsse oder Geldbörsen ziehen! Sorry Pierre, äh Herr... Mercedes, äh, Toyota, äh, Fiat? Naja, Sie wissen schon...

Ich komme nochmal zurück. Was ist Perfektion? Die immersive Erfahrung braucht perfection. Komponisten und Orchester brauchen die noch größere, noch echtere, noch perfektere Erfahrung? Das präzise Spiel. Die richtige Note zum richtigen Zeitpunkt. Flawless. Ich: Ich lebe von den Rissen in der Welt. Die Glitches und die Fehler, die produktive Unvollkommenheit und darauf zeigen, mit allen fünfzig Fingern. Das Scheitern als Beruf. Der Riss als Kunstwerk. Nur Schnitte schaffen Narben und formen neues Gewebe. Gedankenstrich. Die Wörter fallen mir aus der Hand. Keep in mind. Until nAIXt time.

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Evening activities. Die Bar St. Catherine in der Kontaktlinse: Rapid eye movements. Ich bin connecting with people. Ich bin das Leben in der Cloud. Ich bin in der What's-App-Gruppe Aix-en-Provence. Ich muss mit all diesen Menschen fertig werden. Voreiliges Fazit: Wir reden aneinander vorbei als hätten wir sieben Dioptrin. Ich kürze das hier mal ab. Es gibt wie immer mehr zu sagen.

Eins noch... Dinge, die man vor Jackson Pollock Bildern sagt:
Was soll das denn für ein Kunstwerk sein? Da ist ja alles voller KlAIXe! Prost.


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17/07/19

Risse.

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18/07/19

Mehr Risse.

 

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19/07/19

Panikhaftes Erwachen, panikhafteres Packen, am panikhaftesten im Bus sitzen und hoffen, den Zug nicht zu verpassen. – Schnitt – Nur an Bahnhöfen sieht man Menschen den widersprüchlichen Versuch wagen, mit schwer unhandlichem Gepäck in der einen - zwischen Treppen, konfuser Ausschilderung und anderen Menschen, und Kaffee-To-Go in der zweiten, einen waghalsigen Sprint mit abschließendem Sprung in ein langsam losrollendes 1x2m großes Loch hinzulegen. Interessant dabei ist: Diese Art der sportlichen Betätigung bringt eine einmalige und sehr unterhaltsame Gang- bzw. Laufart hervor. Die Tatsache wiederum, dass nicht eindeutig zu bestimmen ist, ob es sich hierbei um einen Gang oder ein Laufen oder doch eher um etwas Humpelndes handelt, genügt – glaube ich – an dieser Stelle als Beschreibung. Schnitt Ende. Jedenfalls bin ich pünktlich und treffsicher im Zug gelandet. Erfolg. – Anspruchslose Rückfahrt, dösend, entkaternd, 40€ für eine kleine Cola im Bordrestaurant... Umstieg in Köln: Friday for Future-Kids rollen ihre Transparente auf der Domplattform ein, zünden sich eine Zigarette an, um ihre überflüssig langlebigen Lungen der Wirklichkeit anzupassen. Übrigens: Die Ziegen, die den TGV blockierten, sind mittlerweile vollständig und rücksichtslos als Teil des großen Ganzen in den Turbokapitalismus der neoliberalen Globalisierer integriert worden. Good for you and good by Europe, Madame, ich ziehe den Hut, ich hoffe uns bald wiederzusehen... eh ich es vergesse: ich habe einen Brief geschrieben an Dich mit einer Idee für ein sozial-ökologisch-technisiertes und demokratisch geeintes Europa. – er ist hier irgendwo.

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09/09/19

Nachtrag: Ich bitte um Entschuldigung, falls das hier alles etwas zusammenhangslos und zusammengeschustert wirkt, das kann höchstens daran liegen, dass das alles ziemlich zusammengeschustert und möglicherweise auch zusammenhangslos ist. Zu meiner Verteidigung ist lediglich anbringen, dass alles ganz genauso passiert worden ist, wie man es hier nachlesen kann. Ich hätte an dieser Stelle gerne einen schönen, zusammenfassenden Chorus gehabt, der alles noch mal bündelt und ein erhellendes Fazit zieht. Auch für mich wäre das nicht schlecht gewesen.

 

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