Ägyptisches Abenteuer

Manuel Schmitt hat "Carmen" in Alexandria inszeniert, mit Corinna Scheurle in der Titelrolle. Beide sind Absolvent*innen der Theaterakademie

„Wenn du tief einatmest, sobald du den Rhythmus hörst und noch bevor die Klarinette zu murmeln beginnt, wirst du dich selbst wiederfinden weit weg von den Sorgen des Tages, ja, von den Sorgen deines ganzen Lebens, als ein Zuhörer – und nicht bloß ein Hörer – einer Oper namens Carmen“. Mit diesem schwelgerischen Satz beginnt ein Text auf der Website des Magazins Majalla, das für ein internationales Publikum über die arabische Welt berichtet. Der Text über die Carmen-Aufführung in der ägyptischen Metropole Alexandria allerdings dürfte sich in erster Linie an ein Publikum in der Stadt und im Land selbst gerichtet haben.

Schließlich ist dort Ende November etwas für die Stadtgesellschaft Außergewöhnliches geschehen. Zwar hat der Dirigent Nayer Nagui zuvor erklärt: „Oper ist in keiner Kultur etwas Fremdes, gewissermaßen Außerirdisches. Die Art zu Singen ist speziell, aber jeder Mensch hört Musik, also kann jeder sie ohne Hindernisse verstehen.“ Auch eine Oper, auch Carmen, so der Dirigent. Bei allem Optimismus Naguis: Opernaufführungen haben in Ägypten so gut wie keine Tradition. Lediglich in der Hauptstadt Kairo gibt es einigermaßen regelmäßig Aufführungen. In Alexandria findet gelegentlich das eine oder andere Gastspiel statt. Carmen ist, jedenfalls in einer ausgearbeiteten Inszenierung, seit Jahrzehnten nicht mehr auf einer Bühne des Landes zu sehen gewesen.

Die Ko-Produktion zwischen der Bibliotheca Alexandrina und dem Goethe-Institut, an der auch die Theaterakademie August Everding Anteil hatte, war insofern ein besonderes und am Ende viel bejubeltes Abenteuer. Und in jedem Fall ein Pionierprojekt. Schließlich konnte das Produktionsteam kaum auf bestehende Strukturen zurückgreifen. Nayer Nagui beispielsweise musste eigens ein Orchester zusammenstellen. Der Regisseur Manuel Schmitt und sein Bühnen- und Kostümbildner Bernhard Siegl haben ihrerseits Dutzende Läden besucht, um Stoffe für die Kleider und die Dekoration zu finden – keines der Geschäfte in Alexandria ist vertraut mit den Anforderungen einer Theaterproduktion oder gar spezialisiert auf die Zusammenarbeit mit Bühnen. Und die Bibliotheca Alexandrina hat zwar einen tollen Theatersaal, so dass insgesamt zweitausend Menschen die beiden Aufführungen von Carmen sehen konnten. Aber keine Werkstätten, jedenfalls nicht nach den Maßstäben selbst kleinerer europäischer Häuser.

Der Regisseur dieser abenteuerlichen Produktion, Manuel Schmitt, ist Absolvent der Theaterakademie. Sabine Erlenwein, die die Filiale des Goethe-Instituts in Alexandria leitet, hat explizit nach der Möglichkeit gesucht, für diese zentrale Personalie mit der Theaterakademie August Everding zu kooperieren. Es gebe, so Erlenwein, in Ägypten keine professionellen Opernregisseure. Dass schließlich auch noch eine zweite Absolventin der Theaterakademie Teil des Ensembles wurde, war so nicht beabsichtigt. Doch Corinna Scheurle hat den Dirigenten Nayer Nagui und den Regisseur Manuel Schmitt beim Vorsingen am meisten überzeugt – und so hat sie schließlich die Titelrolle der Carmen bekommen.

Entscheidend war bei dieser Theaterarbeit jedoch, so viele Alexandrinerinnen und Alexandriner in die Produktion einzubinden wie möglich. Das Orchester, der Chor, der Kinderchor, etliche Solistenrollen, große Teile des Teams hinter der Bühne: Diese Carmen ist nicht wie ein Ufo in der Stadt gelandet als Inszenierung internationaler Profis, die ihre Show abziehen und dann wieder aus der Stadt verschwinden. Sondern hat unter den Kulturinteressierten einen Prozess in Gang gesetzt, der im besten Fall nachwirkt. Sabine Erlenwein, Leiterin des Goethe-Instituts in der Stadt, die in engem Austausch mit dem Dirigenten und dem Regisseur stand und immer wieder die Proben besucht hat, weiß von vielen bemerkenswerten Details zu berichten. So singt im Kinderchor der Bibiotheca ein Junge, der im Rollstuhl sitzt. Bei den Proben und auch bei den Aufführungen haben ihn die jungen Sängerinnen und Sänger stets in ihre Mitte geschoben. „In Ägypten ist das ein Zeichen“, sagt Erlenwein, behinderte Menschen würden in der Regel stark ausgegrenzt.

Dass Frauen, wie es in dieser Oper geschieht, Soldaten ansprechen, ihnen widersprechen, sie gar anfassen: auch dies keine Selbstverständlichkeit im ägyptischen Alltag – und für die Darstellerinnen ein sehr bewusst wahrgenommener, sie anfangs irritierender Vorgang. Ebenfalls eine Entwicklung im Verlauf der Proben: Frauen, die anfangs ein Kopftuch trugen, haben es irgendwann abgelegt, jedenfalls so lange sie eine Bühnenfigur waren. Ungewohnt für viele von ihnen war auch, in der Öffentlichkeit zu rauchen. Wiederum hätten männliche Sänger teilweise neue Erfahrungen gemacht im Umgang mit Frauen und in der Überwindung von Hierarchien. Es gibt Videos, die zeigen, wie engagiert und vor allem offen Manuel Schmitt mit dem gesamten Ensemble gearbeitet hat. Schließlich, auch dies eine wichtige Erfahrung für die Beteiligten: Ihre Leidenschaft und ihr Können – die meisten singen semiprofessionell – ermöglichen es, solch eine Produktion zu stemmen.
 

„Dieser Prozess“, sagt Sabine Erlenwein, „ist wichtiger als das Ergebnis“. Das Besondere an dieser unter sehr speziellen Bedingungen entstandenen Carmen jedoch ist: Die Inszenierung konnte sich allemal sehen und hören lassen und hätte auch vor einem Fachpublikum bestanden. Ein solches gibt es in Ägypten nicht. Stattdessen ist es dem Goethe-Institut und der Bibliotheca gelungen, die Aufführungen zu einem Erlebnis für Familien und Studenten zu machen, für ein buntes und junges Publikum also.

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