Sonntag 20:30 in München. Erschöpft platze ich in unser wöchentliches WG-Tatort-Schauen. „Und wie war Brünn? Wie is' die Stadt so?“, fragt einer meiner Mitbewohner, dem Professor Boerne auf die Nerven geht. „Keine Ahnung.“, sage ich und ernte ungläubige und amüsierte Blicke, denn schließlich habe ich die komplette letzte Woche dort verbracht: 5 Tage, 12 Länder, 14 Produktionen, ein Haufen Studierender und jede Menge Diskussionen und Partys – da bleibt nicht viel Zeit die Stadt zu sehen.
„Hard Choices“ war das Motto des diesjährigen studentischen Theaterfestivals ENCOUNTER/SETKÁNÍ, das jedes Jahr von der Janá?ek Academy of Music and Performing Arts (JAMU) in Brünn – oder Brno, wie die Tschechen mit halsbrecherischer Zungenakrobatik, sagen – ausgerichtet wird.
Eine schwere Entscheidung war es allerdings nicht, der Einladung nach Brünn zu folgen, als meine Bewerbung als studentisches Jury-Mitglied am Festival teilzunehmen, akzeptiert wird. Und so stehe ich am Dienstagmittag gespannt vor dem Hotel und warte auf die anderen Jury-Mitglieder.
Nach einem etwas chaotischen allseitigem „nice to meet you“ freue ich mich über die bunte Mischung: Milan, Maria, Nikola, Alena, Kamila, Alan, Péter und ich. Von Schauspielstudent aus Serbien über Bühnenbildnerin aus Tschechien und Theatermanagementprofessor aus Chicago ist alles dabei. „Das werden bestimmt spannende Diskussionen“, denke ich, zumal es das erste Mal ist, dass Studenten und „Professionals“ gemeinsam zu einer Jury zusammen gefasst sind.
Kurz darauf treffen wir schon auf einen Steinzeitmenschen, einen Adler und einen Proleten. Die Schauspielstudenten der JAMU Akademie eröffnen das Festival mit einer wilden Performance und von der Akademie geht's gemeinsam mit den Festivalbesuchern los durch die Brünner Innenstadt, mit Megaphonen, jeder Menge Radios und „free hugs“-Schildern. Sofort kommt gute Laune und Festivalstimmung auf, die auch die vielen Reden bei der Eröffnungszeremonie übersteht.
Nach der ersten Inszenierung am Nachmittag herrscht erst einmal kurze Ernüchterung in der Jury, denn die Vorstellung aus Prag war auf Tschechisch ohne Übertitel und da können zwei Stunden Theater dann doch ganz schön lang sein. Viel Zeit sich darüber zu wundern bleibt aber nicht, denn wir laufen direkt zur nächsten Inszenierung: „The Farm“. Ich bin beeindruckt von dem unglaublich guten Ensemblespiel der Studierenden aus Rom und auch die nächste Inszenierung „Phaedra's Love“ aus Wien ist spannend. Mira Stadler und ihre Schauspieler*innen übertragen die Sprachlosigkeit von Sarah Kanes Figuren in Tanz.
Auch in den nächsten Tagen geht es Schlag auf Schlag weiter: Von neun bis zwölf Uhr diskutieren wir gemeinsam im Chill-Out-Room des Festivals, wo es den ganzen Tag Kaffee, Bier und Himbeerwasser zu zapfen gibt, über die Produktionen vom Vortag. Meistens geht es auch viel um die Produktionsbedingungen und Lehrmethoden an den jeweiligen Schulen und wie viel die Studierenden mitbestimmen und selbstständig arbeiten dürfen.
Nach den Diskussionen zirkulieren wir zwischen den vier Spielstätten und schauen uns die Vorstellung an: Krakau, Medellín, Chi?in?u, Madrid, Lotz, Tel-Aviv, Zagreb, Verscio, Bratislawa und Brünn. Die Studierenden aus Krakau schmettern uns zwei Stunden lang polnische Volkslieder entgegen. Vollkommen geplättet von so viel Gesangstalent, Musikalität und Energie taumle ich aus dem Theater. Das Spiel der Studierenden aus Lotz ist so intensiv, dass die Verzweiflung der missverstandenen Hauptfigur fast greifbar im Raum ist und bei den Schweizern, die eine junge Gruppe von Künstlern darstellen, die nachts von Stanislavski, Grotowski und Artaud in Form von sprechenden Espressokannen heimgesucht werden, verbinden sich auf beeindruckende Art Objekt- und Puppentheater, Tanz, Akrobatik, Musik- und Sprechtheater. Das Publikum kann sich vor Lachen kaum auf den Sitzen halten und am Ende gibt es fast ausnahmslos standing ovations.
Meistens sammeln wir so viele Eindrücke am Tag, dass es am Abend von uns niemand mehr zu den Partys schafft. Tja, „hard choice“: to dance or not to dance.
Als Maria und ich uns dann doch aufraffen und zur großen „Meeting Point Party“ gehen wollen, verlaufen wir uns natürlich erst einmal in der Innenstadt und müssen uns eingestehen, dass wir uns, abgesehen von den Wegen zwischen den Theatern, überhaupt nicht in der Stadt auskennen. Als wir gerade aufgeben und zum Hotel zurück gehen wollen, stoßen wir auf die Studenten aus Krakau, die uns einsammeln und gut gelaunt singend zur Party begleiten.
Als ich spät abends ins Bett falle, denke ich mir: „good choice“, denn zum richtigen Studenten-Festival-Feeling gehören dann eben doch auch das gemeinsame Feiern und Tanzen, auch wenn es dann am nächsten Tag noch ein Kaffee mehr sein muss.
Einen Gänsehaut-Moment gibt es dann nochmal kurz vor Schluss des Festivals: Bei der Abschlusszeremonie bittet Péter, vor der Preisverleihung, das Publikum darum, mit ihm zusammen eine Videobotschaft an Ebrahim zu schicken. Ebrahim studiert Regie in Teheran. Wir konnten seine Performance leider nur per Video sehen, denn er musste sie kurzfristig vor dem Festival absagen, da ihm ein Visa verwehrt wurde. Péters grüßende Worte gehen im Minuten andauernden Applaus der Studierenden für Ebrahim unter.
Nach der Zeremonie spielt im Theater noch eine Band, doch die Musik und das Licht werden bald ausgemacht und wir vor die Tür – bzw. in den Innenhof – gesetzt. So richtig gehen und das Festival für beendet ansehen will aber eigentlich noch keiner, also schnappen sich kurzerhand zwei Schauspielstudenten ein altes Klavier, das unter den Arkaden im Innenhof steht und fangen an zu singen. Innerhalb von Minuten werden Mülleimer, Windlichter, Stahlsäulen und was sonst noch so alles zu finden ist zu Instrumenten umfunktionert und gemeinsam bis spät in die Nacht gesungen, gefeiert und getanzt.
Das Gefühl der Verbundenheit durch den Spaß daran, gemeinsam Theater und Kunst zu machen, bleibt noch immer als ich wieder Zuhause ankomme. Ich sehe, dass ich eine neue Nachricht von Maria habe. Sie fragt, ob ich nächstes Jahr als Zuschauerin nach Brünn zum Festival komme. „Of course I'll come!“ Dann wahrscheinlich zwei Tage eher, um nach dem Festival auch etwas mehr als die Wege zwischen den Theatern beschreiben zu können.