Tschick und Ich

„Was ist eigentlich dieses 'Tschick'? Das steht dieses Jahr auf fast allen Spielplänen.“ Die Frage meiner Freundin fällt mir wieder ein, als ich auf der Rückbank nach meiner Urlaubslektüre suche. Zwei Bücher habe ich mitgenommen: Eichmann in Jerusalem und Tschick. Eichmann hatte ich nur eingepackt, weil ich wusste, dass ich niemals binnen einer Woche durchlesen würde. So lief ich nicht Gefahr, die Hälfte meines Koffers mit Büchern vollzustopfen. Tschick hatte ich mir besorgt, weil ich das Gefühl hatte eine Wissenslücke schließen zu müssen. Auf den Spielplänen von rund zwanzig Theatern stand dieses Wort. Tschick. Keine Ahnung, was das sein soll.

„Kannst du mal mitgucken?“ Meine Mutter ist unsicher, ob sie die Ausfahrt verpasst hat. Ich greife nach dem ersten Buch, das meine Finger zu fassen bekommen und rutsche zurück auf den Beifahrersitz. In zehn Tagen wollen wir halb Schweden besichtigen. Gotland ist fest gebucht. Ansonsten wollen wir von Tag zu Tag entscheiden, wo wir die nächste Nacht verbringen. Von Rostock ging es mit der Fähre nach Trelleborg und nun sind wir im Auto auf dem Weg in Richtung Norden.

Die Anlage ist im Begriff die eingelegte CD zum dritten Mal von vorne abzuspielen. Wenn Xavier Naidoo mir noch einmal erzählt wie schwer sein Weg sein wird, laufe ich Amok. Meine Mutter summt mit. Das Navi bequemt sich für einen kurzen Moment unseren Standpunkt zu orten. Wir sind richtig abgebogen. 200km bis zur nächsten Abfahrt. 

Das Buch in meiner Hand ist leicht. 250 Seiten. Wenn es schlecht ist, ist es wenigstens schnell vorbei. Tschick. Ich kann mir immer noch nichts drunter vorstellen. Spiegelbestseller, sagt der Sticker auf dem Umschlag. Leider auch kein Garant für gute Qualität. Das Bild auf dem Cover ähnelt dem Blick aus dem Fenster. Das Grün des vorbei ziehenden Waldes mischt sich mit dem Grau der Leitplanken und wird hier und da vom kräftigen Rot der für Schweden so typischen Holzhäuser unterbrochen. Meine Mutter hat Erbarmen und wechselt die CD. Während Andreas Burani ansetzt „Ein Hoch auf uns“ zu grölen, schlage ich das Buch auf.

Und dann ich lerne Maik kennen. Maik Klingenberg, ein Junge wie es ihn in jeder Klasse gibt. Kein  Streber, kein Schönling, das unauffällige Mittelmaß. Der Junge, der nicht gemobbt und nie zu Geburtstagen eingeladen wird. Der Typ Mitschüler, von dem man weiß, dass er Teil der Klasse ist, aber dessen Namen man so leicht vergisst. Und ich lerne den Jungen kennen, der sich hinter dem Titel verbirgt. Tschick. Der neue Mitschüler. Ein Typ, der sofort zu den Coolen der Klasse zu gehören könnte. Wenn er denn wollte. Und wenn er kein Alkoholproblem hätte. Der selbsterwählte Außenseiter, der heimlich bewundert und sonst kaum beachtet wird. Jemand, der die Freiheiten zu nutzen weiß, die ihm sein Außenseitertum verschafft. 

Während das Waldgrün vor meinem Fenster langsam in ein Wiesengrün übergeht, brechen die beiden Jungs mit einem geklauten Lada in Richtung Walachei auf. Unter dem Sternenhimmel philosophieren sie über außerirdische Insekten und in einem kleinen Dorf mitten im Nirgendwo treffen sie auf Friedemann. Ich lache. Wie absurd ist das denn? Meine Mutter guckt mich erschrocken an und bittet um eine Kostprobe. Und dann lachen wir beide. So laut, dass die Elche im Umkreis vermutlich Reißaus nehmen. Herrndorf schreibt gut, richtig gut. Wie konnte ich dieses Buch nur übersehen? Ich habe das Gefühl im Kopf eines 14jährigen zu sein. Eines 14jährigen Menschen, wie ich einer war. Genauso habe ich mich damals auch gefühlt. Endlich schreibt es mal jemand. Ohne angestrengt wirkenden Jugendslang. Ohne belanglose Detailbeschreibungen, überflüssige Nebenschauplätze und völlig eindimensionale Figuren. Hier schreibt ein Erwachsener, der sich noch genau erinnert in welchen Kategorien man mit 14 Jahren fühlt und erzählt. Direkt. Schutzlos. Und dabei entwaffnend treffsicher.

Während sich das Wiesengrün langsam in Ozeanblau verwandelt, baden Maik, Isa und Tschick im See. Ich lese laut und hoffe, dass das Buch nicht endet. Dass wir ewig unterwegs sein werden.