Stefanie Fischer: Herr Roser, woher stammt Ihr spezielles Interesse für die Operette?
Hans Dieter Roser: Schon als ich jung war, hat es mir großen Spaß gemacht, in die Operette zu gehen. Ich hatte zu der Zeit aber auch das Glück, die Crème de la Crème der damaligen Sängerpersönlichkeiten der Operette mitzuerleben. Das 'Singende Burgtheater', wie es in Wien damals genannt wurde, bestand aus Schauspielern des Burgtheaters, die sich mit Operettenpartien an der Volksoper ein Zubrot verdient haben. So haben sie eine andere Spielhaltung in die Operetten mitgebracht als beispielsweise Opernsänger. Deswegen vertrete ich auch die These, dass man eine Operette nicht generell mit Opernsängern machen sollte, die es darstellerisch nicht 'bringen'. Es gibt viele schreckliche Operettenaufnahmen, die mit dem besonderen Stil der Operette nichts mehr zu tun haben, weil sie zu opernhaft gesungen werden. Sie decouvrieren den speziellen Unterhaltungsstil der Operette.
Stefanie Fischer: Was muss ein Sänger oder Schauspieler Ihrer Meinung nach mitbringen, um das Genre der Operette zu meistern?
Hans Dieter Roser: Man kann das nicht generalisieren. Lassen Sie uns das am Beispiel von Der Teufel auf Erden durchgehen: Sie haben hier durchaus Partien, die sie mit guten Sängern besetzen müssen. Dazu zählen Amanda, Rosine, Isidor und Reinhard. Aber alle anderen Rollen sind mit Schauspielern natürlich wesentlich besser besetzt.
Stefanie Fischer: Sie schreiben, dass Suppé eine österreichische Antwort auf eine Pariser Erfindung, nämlich die Operette, gefunden hat. Könnten Sie diesen Stil der Wiener Operette etwas genauer beschreiben?
Hans Dieter Roser: Die Pariser Operette war politischer ausgerichtet als die Wiener, denn zu dem Zeitpunkt, als sich die Operette in Wien herausbildete, war Österreich gerade nach dem Vormärz und stand unter zunächst politischem und dann restaurativem Druck. Im Vormärz entstand der politische Druck aber nicht so sehr durch Metternich, wie überall fälschlich geschrieben steht, sondern vielmehr durch den Finanzminister Kolowrat, der der eigentliche unangenehme Patron in dieser Regierung gewesen ist. Metternich war dagegen einer der großen Politiker, der genau gesehen hat, dass Europa nur kriegsfrei bleiben kann, wenn ein Mächtegleichgewicht entsteht. Seine Absichten richteten sich daher darauf, dieses Mächtegleichgewicht zu erstellen. Deswegen war er auch skeptisch gegenüber revolutionären Gruppen, nicht weil sie Liberalität gefordert haben, sondern weil sie die Nationalitätenfrage zu sehr betonten. Das hätte das europäische Gleichgewicht wieder in Gefahr gebracht. Somit waren politische Themen nicht geschätzt – auch später nach Metternichs Abdankung nicht.
Politische Intrigen kommen in den Wiener Operetten trotzdem immer wieder vor, werden aber nie genau artikuliert. Dann war die Wiener Gesellschaft auch noch sehr bigott, sodass man die Frivolität der französischen Operette erst 'gesellschaftsfähig' machen musste. Das passierte durch das stilistische Mittel einer gewissen Gefühligkeit, hinter der man die Erotik verstecken konnte.
Auch hatte die französische Musik eine andere Grundhaltung als die Wiener Musik, die mehr von der italienischen Oper beeinflusst war. Man hat also von Offenbach eine kastrierte Sexualität übernommen und mit italienischer Oper und der Gefühligkeit der Wiener Musik ergänzt.
Stefanie Fischer: Welche Rolle spielten die Librettisten in dieser Entwicklung?
Hans Dieter Roser: Ein wirklich bedeutender Mann für die Operette in Wien war der Librettist Richard Geneé. Das 'Wunder der Wiener Operette' passierte eigentlich erst mit ihm. Die Fledermaus verdankt ihm beispielsweise ihre dramaturgische Form. Johann Strauß Sohn wusste, was er an ihm hat, er hat ihn nur für seine Arbeit schlecht bezahlt.
Stefanie Fischer: Warum, glauben Sie, ist Der Teufel auf Erden nach der Uraufführung nicht mehr gespielt worden? Hat das etwas mit der politischen Thematik zu tun?
Hans Dieter Roser: Vielleicht hat man erst nachher festgestellt, dass es vielleicht doch zu liberal ist. Ich hatte mich anfangs auch gefragt, wie es das Stück überhaupt durch die Zensurbehörde geschafft hat. Vor kurzem habe ich die Zensurakten von Teufel auf Erden einsehen können und musste feststellen, dass der Zensor politisch nichts an dem Stück auszusetzen hatte. Offensichtlich empfand man im Uraufführungsjahr 1878 die Forderung nach einer Konstitution, nach dem Ausgleich mit Ungarn und der Dezemberverfassung der Habsburgermonarchie von 1867, bereits als historisch, darüber hinaus vielleicht sogar als Parodie. Warum das Stück gleich im Anschluss an die Uraufführungsserie nicht mehr aufgeführt wurde, lässt sich schwer sagen. Selbst die kurze Laufzeit ist schwer zu erklären: Die Rezensionen waren zum Großteil sehr gut. Es kann auch an etwas Banalem wie dem Wetter gelegen haben, oder das Premierendatum war nicht günstig. Das Stück wurde im Januar uraufgeführt und das ist immer ein schlechter Monat, denn da ist Fasching und die Leute sind anderweitig beschäftigt. Nach dem Ersten Weltkrieg war dann ein anderer Operettenstil vorherrschend und nach dem Zweiten Weltkrieg hatte die Operette, wie leider auch die gesamte tonale Opernmusik der Vorkriegszeit, es nicht einfach und keinen geachteten Stellenwert.
Stefanie Fischer: Welchen Einfluss hatten die NS-Zeit und der Krieg auf die Operette?
Hans Dieter Roser: Die Operette war in den 1920er Jahren ziemlich frivol, stellenweise kann man von kaschierter Pornografie sprechen. Das hat die Nationalsozialisten natürlich gestört, da in ihrer Kunstvorstellung alles 'sauber' sein musste. Daher galt auch die Revue-Operette als unsittlich und es entstanden sogenannte Surrogate-Operetten. Dann kam der Todesstoß für die Operette mit der Zeit des Verbots jüdischer Komponisten, Librettisten und Interpreten. Da gingen viele begehrte Stücke verloren. Manche Stücke wurden umbenannt, da ihr Titel zu anrüchig klang; bei anderen funktionierte der Handlungsort politisch nicht mehr – beispielsweise konnte Der Bettelstudent nach dem Angriff auf Polen nicht mehr in Krakau spielen. Dann sah man auch die Operette im Bereich der deutschen Spieloper, was den Spielstil provinzialisierte. Kurz: Die Nazis haben viel Unheil in der Operette angerichtet, sonst hätte sich wohl auch hier aus der Operette eine Form des Musicals entwickelt.
Stefanie Fischer: Wie hätte sich diese europäische Form des Musicals unterschieden vom amerikanischen Musical?
Hans Dieter Roser: Durch die musikalische Basis. In Amerika hatten sie den Jazz und den Blues und wir hatten hier eben die klassische europäische Musik – vom Walzer bis zur Polka.
Was die Operetteninterpretation aber auch noch negativ beeinflusst hat, ist, dass sich eine Art Bedienungsdramaturgie entwickelt hatte. Da kam dann der Herr Kammersänger und wollte an dieser oder jener Stelle noch eine Arie, was die Stücke immer mehr aus der Form brachte. Denn nehmen Sie beispielsweise Bücher von Geneé und Zell, wie Fatinitza, Boccaccio oder Der Bettelstudent, das sind ganz streng geschriebene Stücke mit einer ungeheuer klaren Form, wo alles an der goldrichtige Stelle sitzt. Wenn Sie da irgendwelche Eingriffe machen, geht die Form verloren. Doch gerade nach solchen Operetten besteht auch heute noch ein Bedürfnis im Publikum.
Stefanie Fischer: Meint das auch einen bestimmten Aufführungsstil?
Hans Dieter Roser: Nein, da sind die Leute inzwischen schon recht tolerant. Es kommt vor allem auf die Melodien an. Das heutige Musical kann aber die Melodiensucht des Publikums nicht mehr in der Form befriedigen, wie es das Publikum gern hätte – Andrew Lloyd Webber lasse ich dabei einmal außen vor. Das ist mitunter auch der Grund für den Erfolg von Verschnitten wie der Udo-Jürgens-Show Ich war noch niemals in New York, denn das entspricht der Melodiensehnsucht der Leute, das können sie innerlich mitsingen. In der Operette können die Leute noch immer Sehnsüchte und Emotionen abdecken, was ihnen das heutige Schauspiel nicht gewährt, da moderne Inszenierungen oft nicht mehr einfach verständlich sind.
Stefanie Fischer: Der Publikumsgeschmack, den Sie beschreiben, bezieht sich ja auf eine bestimmte Generation. Wäre es also möglich, dass sich die Operette mit dem Publikum und den Theatermachern neuerer Generationen in ihrer eigenen Form weiterentwickelt?
Hans Dieter Roser: Sie dürfen nicht vergessen, dass ein Stadttheater früher drei Ensembles hatte, ein Schauspiel-, ein Opern- und ein Operettenensemble. Heute hat ein Theater ein Schauspielensemble und ein Opernensemble. Das heißt, die Oper bedient die Operette und das ist das Übel. Dadurch kann im Augenblick eigentlich nichts Originelles mehr entstehen. Operette wird als Kleinform der Oper gehandhabt und das ist der Fehler. Aber Operette legt den Hauptton auf die Handlung, wozu sie Text und Musik benutzt. Es ist also schon immer mehr Theater gewesen.
Stefanie Fischer: Häufig wird der Operette vorgeworfen, dass sie sich als Unterhaltungsgenre nur nach dem Publikumsgeschmack richtet. Wie sehen Sie das?
Hans Dieter Roser: Der Ruf der Operette hat sich in den vergangenen Jahren sehr verbessert. Man arbeitet daran, der Operette ein neues Standing zu verschaffen. Allerdings machen neuere Inszenierungen häufig den Fehler die Stücke zu dekonstruieren. Aber Sie können eine Operette nicht dekonstruieren, dann geht sofort das ganze Stück kaputt – Sie können ja auch eine Parodie nicht parodieren. Und manchmal wird eben erst durch ein naturalistisches Spiel die Absurdität der Handlung deutlich.
Für mich ist entscheidend, dass die gesanglichen Elemente einer Operette lupenrein geboten werden. Gerade klassische Operette müssen Sie so solide studieren, wie einen Mozart. Viele glauben, man kann die Musik beiläufig behandeln. Doch gerade im Teufel gibt es Rollen wie die der Rosine oder Stücke wie das Quartett am Ende, die erstklassig gesungen werden müssen. So auch das Duett von Isidor und Amanda oder Amanda und Isabella – das ist italienische Oper, das muss sitzen.
Außerdem darf es nicht langweilig werden, es muss einem immer etwas einfallen, was die Handlung weiter treibt und die Leute amüsiert und beschäftigt.
Man darf auch nicht vergessen, dass die Sänger früher durch den Rundfunk und Plattenaufnahmen einen hohen Bekanntheitsgrad hatten. Man ging nicht nur ins Theater, um ein bestimmtes Stück zu sehen, sondern man ging, um einen bestimmten Sänger zu sehen. Um das entstehen zu lassen, muss ein Operettentheater heute eben wieder versuchen, Sänger mit Star-Image aufzubauen.
Till Kleine-Möller: Das, was das Musical gerade macht, muss die Operette sozusagen wieder finden.
Hans Dieter Roser: Genau, dazu braucht man aber eben auch ein Haus, das sich der Operette speziell widmet.
Stefanie Fischer: Vielleicht wäre es aber auch ein Weg, dass man das Genre der Operette im Gesamten weiterentwickelt.
Hans Dieter Roser: Ich halte das Genre für ausgereizt. Man müsste eine neue Form finden… aber ich halte auch die traditionelle Oper als Form für ausgereizt.
Till Kleine Möller: Ich denke, dass es auch sehr stark auf das Publikum ankommt. Wo man daher anfangen müsste, ist das Image der Operette zu ändern, wie Steffi sagt, und ich möchte fast sagen zu beweisen, dass Operette eben auch eine heutige Form hat. Nur muss man dafür von dem Publikum der 'alten Herrschaften', wie Sie sagen, weg und zwei drei Generationen weiter denken.
Hans Dieter Roser: Die Schwierigkeit ist nur, dass man dabei nicht das Original verletzen darf. Oft wird aber soweit 'umgedacht', dass das Original nicht mehr erkennbar ist.
Es ist mehr eine Sache der Haltung. Ich darf nicht die Haltung opfern. Wenn Sie Madame Pompadour plötzlich in Jeans und Pulli machen, dann funktioniert das nicht. Bei Der Teufel auf Erden ist das etwas anderes. Eine Geschichte mit Satanas und Mephisto kann man offen interpretieren. Aber das geht eben nicht bei jedem Stück.